Montag, März 17, 2014

Hanks Story


Folgener Text ist uralt und begann als zufälliges Posting in einem Rollenspielforum. Die Geschichte fing an, sich von selbst fortzupflanzen. Sie gebar immer neue und neue Buchstaben und Worte und Sätze und Absätze und... Irgendwie find ich die heute noch ganz nett  und ich dachte mir, ich könnte die hier nochmal veröffentlichen für den (geplanten) Fall, dass meine einstige Homepage demnächst komplett neu aufgebaut oder gelöscht wird. Es gibt bislang zehn Kapitel der Geschichte und die werde ich hier in der nächsten Zeit mal alle reinschieben und gegebenenfalls danach weitere Kapitel hinzuspinnen. Leute, die das Spiel "Baldurs Gate" kennen, werden vielleicht etwas mehr damit anfangen können als der Rest.

Das BI-Experiment


Yeah, is schon ne coole Gegend hier, Schwertküste und so. Rauschende Wellen, tiefgrüne Wälder, handzahme Eichhörnchen, springende Fische… Obwohl mir die Palmen fehlen und die schokobraunen Juanitas, die einem eisgekühlte Cocktails an die Liege bringen. Aber ich will nicht klagen. Immer noch besser als meine alte Absteige, irgendwo downtown L.A….
Es war einer von diesen Tagen, wo man sich nicht entscheiden konnte, wegen was man nun den Kopf auf die Bahnschiene legen sollte: wegen der hirnerweichenden Chico-Musik aus der Nachbarschaft oder wegen des akuten Biermangels. Es war einer von diesen Tagen, wo die Lokführer gestreikt hätten. Und irgend ein kleiner Pisser aus der zwölfköpfigen Latino-Kinderschar im vierten Stock wäre gekommen, hätte mit dem Finger auf einen gezeigt und dabei geschrien: „Hey Leute, der alte Saufsack Chinsasky zieht mal wieder seine Show ab! Der alte Kinderficker will uns was von Weltschmerz erzählen!“ Und dann hätte er einem zum Abschied in die Weichteile getreten.
So ein Tag war das. Der Smog lag über dem Viertel wie eine verlauste alte Hundedecke.
Ich sparte mir den Weg zu den Bahnschienen, sollten die ihren Streik doch alleine aussitzen. War jetzt schon den zwei Tage trocken, übel dran und inzwischen soweit, daß ich selbst meine Schreibmaschine versetzt hätte, wenn irgendein Pfandleiher mir dafür das monetäre Äquivalent eines Sixpacks über die Theke geschoben hätte. Ich war so was auf den Hund gekommen, daß ich Worte wie „monetäres Äquivalent“ meinem Spiegelbild ins Gesicht sagen konnte, ohne diesem Arschgesicht sofort eins reinzuhauen. Dann knallte ich den Spiegel aber doch kaputt, um meinen Vermieter zu ärgern.
Man hätte also mit Fug und Recht die These aufstellen können, daß ich nicht besonders gut drauf war. Mit meinen gelbgepinkelten Shorts, meinem fleckigen Feinripphemd, mit den blauvioletten Quetschungen von der letzten Schlägerei und dem teergetränkten Stofflappen auf der Zunge zeigte ich mich alles andere als in Form. Vor allem, wenn es darum gegangen wäre, zwei blondbeinige Anglistikstudentinnen aus good old Europe zu begrüßen.
Doch das Schicksal fragt dich nicht, ob du bereit und in Form bist. Das Schicksal schlägt immer im ungelegensten Augenblick zu. An diesem Abend schlug es nicht etwa einfach. Es pochte auch nicht hallend an die Pforte. Es ließ ein trommelfellfeindliches Schrirren ertönen, das in irgendeiner diabolischen Verbindung zu dem Knopf links von meiner Wohnungtür stehen mußte.
- „Hey, kann man reinkommen?!“, fragte eine Mädchenstimme. Die Tür ging von selber auf, weil ich erstens nie abschließe, und weil zweitens auch kein funktionstüchtiges Schloß vorhanden war.
- „N‘abend! Sind Sie Chinasky? Hank Chinasky, der Dichter und Autor?!“, fragte eine der beiden. Sie hatte eine von diesen knalligen Blue-Jeans an, die die Mädel mit vierzehn Jahren eine Nummer zu eng kaufen, und in denen sie dann wahrscheinlich vier Jahre leben, ohne sie zwischendurch auszuziehen, um im wahrsten Sinne hineinzuwachsen. Es soll Leute geben, die stehen nicht auf solche Beine in solchen Hosen, die eigentlich gar keine Hosen, sondern nur Farbspuren auf warmem Fleisch sind. Aber das ist allseits bekannt, daß es nur so von Spinnern und saftlosen Schwuchteln wimmelt auf diesem Planeten. Und es stört mich auch nicht weiter.
Ihre Freundin war auch nicht schlecht, selbst wenn sie nicht so’ne klasse Hose anhatte. Dafür war sie oben rum so ausgestattet, daß es auch einem hartgesottenen Trinker den Atem verschlagen konnte. Obwohl ich schon so einiges gesehen hatte im Leben.
- „Ey, wer hat euch hier reingebeten?“, grunzte ich, „ Ich hab keine Einladungskarten verschickt, soweit ich mich erinnern kann.“
Die mit den Jeans versuchte zu beschwichtigen: „Tschuldigung, die Tür war offen, und da dachten wir… Ich heiße Sarah. Meine Freundin Meike und ich, wir kommen aus Deutschland. Wir machen ’ne Rundreise durch die USA. Und als wir hier in L.A. ankamen, da dachten wir, wir besuchen einfach mal den weltberühmten Schriftsteller Chinasky, um zuhause unsern Dozenten was erzählen zu können.“
- „Ja genau“, ergänzte Meike, „Und wir haben hier auch was zu trinken dabei, schließlich wollten wir Ihnen ja nicht unangemeldet den Kühlschrank plündern!“
Sie schwenkte eine Flasche Jack Daniels.
- „Ist das alles, was ihr mitgebracht habt?“, wollte ich wissen.
- „Oh nein, draußen im Wagen haben wir auch noch ’ne Palette Budweiser dabei.“
- „Okay Mädels, kommt rein und macht‘s euch gemütlich!“
Dann lief mal wieder die übliche dämliche Vorstellung ab. Sie wollten wissen, was mich zu meinen Gedichten inspirierte. Ob ich wirklich mal von einer drei Zentner schweren Polizistin vergewaltigt worden sei, wie ich es im letzten Buch geschrieben hatte. Und wie das mit meiner Kindheit gewesen sei, was ich dabei gefühlt hatte, als mein Vater mich mit dem Baseballschläger zum Rasenmähen motivierte, während meine Kumpels zum Baseballmatch gehen durften. Und woher die Narben in meinem Gesicht stammten, die mich so tragisch erscheinen ließen.
Also erzählte ich ihnen die Story von meiner Akne, von meiner Weltrekord-Pickel-Phase, während der ich zweimal die Woche zum Arzt mußte und mir die Schwester jeden Eiterpickel einzeln aufschnitt. Und der Arzt, dieser Psychopath, konnte sich gar nicht wieder einkriegen vor Begeisterung, so ein Fall sei ihm in der ganzen Fachliteratur noch nie untergekommen. Für ihn war ich der Pickel-Champion. Wenn es für Akne Wettbewerbe gegeben hätte, hätte er mit dem Gaul Chinasky alle Pokale abgeräumt. Seine Assistentin schlitzte jede dieser Eiterbeulen mit einem kleinen Skalpell auf, welches nach jedem Stich wieder desinfiziert werden mußte. Aber das brachte auch nicht viel, denn die Pickel kamen immer wieder neu. Solange, bis meine Eltern keine Lust mehr hatten, ihr sauer verdientes Geld in einen bodenlosen Eiterkrater zu werfen.
So war diese Arztassistentin die einzige Frau, die mir vom fünfzehnten bis achtzehnten Lebensjahr näher als einen Meter kam, und sie war daher auch der Inhalt meiner ersten feuchten Träume. Dabei hatte sie schiefe Zähne und ihre Frisur glich einem vom Truck überfahrenen Chow-Chow.
Kurz nach dem Behandlungsende meiner Champion-Akne verschwand selbige übrigens von selbst. Wahrscheinlich weil ihr die Bewunderung des Arztes fehlte. Oder weil ich mit dem Saufen anfing. Aber die Narben blieben und verliehen mir dieses abenteuerlich toughe Aussehen, das noch besser kam, wenn man dicke Zigarettenqualmschleier davor hinziehen ließ.

All das erzählte ich Sarah und ihrer Freundin Meike, so, wie ich es schon Dutzenden von Studentinnen erzählt hatte. Wie die meisten anderen Studentinnen auch quiekten sie zuerst, als ich ihnen die Hand auf den Oberschenkel legte. Dann war das Gekreische ihnen peinlich, und sie schoben meine Hand immer wieder schweigend, wie nebenbei, weg, wenn ich damit zu hoch wanderte, und erzählten was von ihren Boyfriends, und dann nahm ich nochmal meinen ganzen Mumm zusammen und schob der Meike die Hand bis dahin, wo früher mal, als sie noch nicht mit ihr verwachsen war, der Schlitz ihrer Jeans gewesen sein mochte. Aber das ging ihr zu weit, und sie stand auf und meinte, ich würde mich ja benehmen wie ein Schwein. Dann ging sie raus zu ihrem Wagen, um die Palette Bier zu holen und ich gab‘s auf, die beiden zu befummeln und konzentrierte mich auf die Getränke.
Wir redeten noch eine Weile sinnlos rum, während die Bierdosen weniger wurden. Dann wollte Meike mal meine legendäre Schreibmaschine sehen, und ich zeigte sie ihr. Wie ich denn da drauf schreiben könne, fragte sie mich, ob ich denn immer noch keinen Laptop hätte, den würde doch heute jeder Autor benutzen. Ob ich ihren Laptop mal sehen wolle?
- „Yep, nur immer her damit, ich bin Neuem gegenüber total aufgeschlossen!“ Also holte sie ihren Laptop aus dem Wagen und noch eine Menge mehr technischen Krimskrams. Ob ich denn schon mal im Internet gewesen wäre, wollten sie von mir wissen.
- „Nee, ich komm kaum noch aus dem Viertel. Hier habe ich alles, was ich brauche, einen Drugstore an der Ecke, ein paar gute Bars, zwei Straßen südlich und jede Menge Todfeinde, die mich zu meinen Gedichten inspirieren.“
Meike lachte mich aus.
- „Mann, Hank, du mußt deinen Arsch gar nicht hochheben, um ins Internet zu kommen, das ist doch das Geniale daran, du kannst hier in deiner versyphten Bude sitzen bleiben und doch die ganze unendliche Weite des Cyberspace bereisen!“
- „Hört sich gut an, scheint sich nicht um sowas Anstrengendes wie Sport zu handeln, das versuche ich mal!“, meinte ich.
- „Okay!“, meinte Sarah, „hast du hier irgendwo einen Telefonanschluß?“
Ich stand auf, um ihn ihr zu zeigen, und stützte mich, beim Hochhieven aus dem Sofa, bei Meike an der Schulter ab, wobei ich aus Versehen abrutschte und ihr zufällig und aus Versehen zwischen die Titten griff. Es fühlte sich warm und gut an, war aber viel zu schnell vorbei.
Sarah und Meike waren absolut auf der Höhe der Zeit. Sie hatten alles, was Klassemädchen heute so brauchen. Perfekte Beine, Holz vor der Hütte und die absolut neueste Hardware, direkt von irgendeiner Messe in ihrem Heimatdorf Hannover. Da hatten sie als Hostessen gearbeitet.
- „Wird dir gefallen, Hank!“, versprach Meike, „Du wirst staunen, was es da so alles gibt, man kann sogar Sex im Cyberspace haben, gefühlsecht und alles.“
Sie zeigte mir verdrahtete Handschuhe und setzte sich so eine abgefahrene, tonnenschwere Spiegelbrille wie aus einem Alien-Film auf. Sah dämlich, aber irgendwie auch pervers gut aus. Ihre Brüste kamen noch besser zur Geltung, wo jetzt der ganze Kabelsalat da locker drüber mäanderte.
- „Hier, es gibt sogar einen Vibrator, den man über das Web steuern kann!“, meinte Sarah.
Das Teil sah aus wie eine schwarze Möhre mit Telefondrahtstrippen statt Kraut obendrauf.
- „Nicht so mein Ding.“, sagte ich. „Oder soll ich mir das in den Hintern schieben?“
Sarah giggelte ein bißchen. Würde sicherlich lustig wirken, meinte sie, bestand aber nicht weiter darauf. Meike hatte inzwischen ihren Laptop an meinen Telefonanschluß gestöpselt.
- „Komm her, Hank, ich zeig dir mal, wie man surft!“, forderte sie mich auf. „Das ist ganz einfach, man klickt sich einfach so von Hyperlink zu Hyperlink, jedes Kleinkind kann das!“
- „Ich bin aber kein Kleinkind, und auch kein Wassersportler. Ich bin ein pensionsreifer Knacker und hab nix mit Hyperlinks zu schaffen!“
- „Mensch Hank, nun sei mal nicht so mies drauf! Versuch’s doch einfach mal. Hier, das da ist der Trackball, mit dem kannst du den Cursor auf dem Bildschirm…“
Es war nichts für mich. Keine Chance. Meine Finger waren taub, wie mein Arzt mir immer vorhergesagt hatte, wenn er mich vom Rauchen abhalten wollte. Ich kriegte den blöden Trackball nicht richtig bewegt. Dieser mickrige, weiße Pfeil, der Cursor, zitterte wie eine Albinofliege mit Schüttelfrost über das Display von Meikes Laptop. Ich zischte mir zwei, drei weitere Bier rein, aber es wurde kaum einfacher dadurch. Schließlich gab ich auf.
- „Okay, ich denke, Hank ist reif für das BI!“, sagte Meike und grinste Sarah verschwörerisch an.
- „Meinst du wirklich, wir können ihm das Ding vorführen?“, fragte Sarah und guckte auch so komisch dabei.
- „Ich glaube, er würde es nicht bösartig ausnutzen“, nickte Meike.
- „Hey, von was redet ihr beiden da?!“, wollte ich wissen. „BI – ist das sowas wie ein spezieller, weiterentwickelter BH oder so?“ Manchmal hab ich richtig helle Momente.
- „Hhmm.“, machte Sarah.
- „Hhmm.“, machte auch Meike.
- „Also was ist jetzt, sagt ihr mir, was ein BI ist?“, fragte ich.
- „Eine absolute Neuentwicklung. Genaugenommen noch in der Beta-Test-Phase.“, erklärte Sarah, und ich kapierte nix.
- „Ein Gerät, das für Leute mit Störungen der Feinmotorik entwickelt wurde, damit auch die sich frei im Internet bewegen können.“, erläuterte Meike, und ich kapierte immer noch nix.
- „BI – das ist eine Abkürzung für Brain-Interface. Ein direkter Zugang zum Web, ohne daß man noch eine Tastatur bräuchte.“, sagte Sarah, „ Man steckt sich einfach einen kleinen Stecker ins Ohr, so wie ein Hörgerät, und dann hat man eine direkte Verbindung vom Gehirn zum Computer, und damit auch zum Web. Allein durch die Kraft Deiner Gedanken kannst du dich dann im Cyberspace bewegen. Ist wirklich brandneu! Auf der Cebit wurde es noch nicht ausgestellt, wegen kleindeutscher bürokratischer Pingeligkeiten irgendwelcher beamteter Datenschützer. Das ist so top-aktuell, daß es erst bei der nächsten Computerspiel-Messe vorgestellt werden soll, die wir bei unserer Tour durch Amerika auch noch besuchen wollen.“
Sarah zeigte mir einen kleinen Stöpsel, der die Form eines abgebrochenen Kulis mit Gewichtsproblemen hatte. Den sollte ich mir bis zum Anschlag ins Ohr stecken, und dann auf ein winziges Knöpfchen an seinem Ende drücken.
- „Und was passiert dann?“, wollte ich wissen.
- „Dann fährt da eine hauchdünne Nadel am vorderen Ende raus, die sich direkt durch die Innenseite deines Ohres in das Gehirn schiebt.“
- „Sagt mal, haltet ihr mich für bescheuert, oder was? Ich stech mir doch kein Loch in den Kopf!“, protestierte ich.
- „Mensch Hank, du bist wirklich ein Schisshase! Das habe ich schon dirverse Male gemacht. Die Nadel ist dünner als die Nadeln, mit denen die Chinesen seit tausenden von Jahren ihre Akupunktur machen! Da fließt kein einziger Tropfen Blut, die Nadel ist elastisch und schiebt sich wie eine mirkroskopische Schlange zwischen den Zellwänden hindurch. Zwischen den Zellwänden, verstehst du? Da geht nicht eine einzige Zelle kaputt. Das spürst du gar nicht.“, sagte Sarah.
- „Yeah, eben hast du uns noch von diesen Pusteln erzählt, die dir die Arzthilfe immer aufgeschlitzt hat, und jetzt läßt du dir von einem Mückenstich Angst einjagen?“, sprang Meike ihr bei.
- „Außerdem“, ergänzte Sarah, „im Internet könnte es durchaus sein, daß ich mir deinen Finger in die Muschi schieben lasse. Das wäre dann ja rein virtuell und nicht so schmutzig wie in der Realität…“
Ich war überzeugt. Meike verkabelte diesen BI-Kuli mit ihrem Laptop, und ich propfte ihn mir ins Ohr.
- „Bist du bereit?“, fragte sie mich noch. „Du mußt die Augen schließen, damit es funkioniert.“
Ich nickte und hielt den Daumen hoch.
- „Yepp, kann losgehen.“
Sie klickte auf ihrem Laptop herum, man hörte so ein Piepsen und Knarzen und Rattern, und dann.

***

Auf einmal saß ich mit meinem blanken Allerwertesten auf einer spiegelglatten Straße. Diese Straße war nicht warm und nicht kalt, sie fühlte sich nach überhaupt nichts an. Ich machte die Augen auf und merkte, daß ich vollkommen nackt war. Die Straße war keine Straße, sondern eine unendlich sich zu allen Seiten erstreckende Ebene. Direkt vor mir ragte ein leuchtender Torbogen auf, auf dem zu lesen stand: YAHOO, IHR PORTAL ZUM WEB. WAEHLEN SIE UNS ZU IHRER GANZ PERSÖNLICHEN STARTSEITE!
Da ich nicht wußte, wo ich war, latschte ich zu diesem Torbogen und marschierte hindurch. Dahinter war nichts. Die gleiche unendliche Ebene wir davor, doch als ich mich umdrehte, war das Tor weg. Ich war gefangen. Meike und Sarah hatten mich mit ihren haltlosen Versprechungen reingelegt. Ich war im Niemandsland, mutterseelenallein, weit und breit keine Muschi, nicht mal ein Laden, wo man sich eine Kanne Bier hätte besorgen können. Außerdem hatte ich eh kein Geld dabei, denn ich hatte ja keine Klamotten an, und meine Schreibmaschine auch noch nicht versetzt.
So stand ich da und fragte mich: Was nun?
Ich schrie und brüllte ein bißchen herum. Ich sprang im Kreis, wie man es tun soll, um unterdrückte Emotionen in Bewegung zu kanalisieren. Ich verfluchte die ganze moderne Technik und alle vollbusigen Hostessen dieser Welt. Ich schmiedete Rachepläne und lachte wie ein Irrer, weil ich diese Pläne ja nie würde verwirklichen können. Es war der Horror, schlimmer als kalter Entzug.
Als ich müde war vom Rumbrüllen und im Kreis springen, setzte ich mich hin und wartete ab. Wie lange ich wartete, weiß ich nicht mehr, aber plötzlich stand ein Typ neben mir. Er war mindestens einsneunzig groß, wog aber höchstens siebzig Kilo und sah aus, als hätte ihn jemand aus einem Film über Ausschwitz geklaut, so dürr war er. Außerdem war er nackt wie ich und daher konnte man seine Rippen einzeln zählen.
- „Hi, wie geht‘s?“, begrüßte er mich.
- „Bist du denn noch wahnsinniger als ich?!“, schrie ich ihn an, “Wir befinden uns hier in einer endlosen spiegelblanken Wüste, und du fragst, wie es mir geht? Wie fühlte sich die Schnecke auf der heißen Herdplatte, na, was meinst du?! Ich will hier weg!“
- „Ah, ein Newbie, was?“, sagte er.
- „Ein was?!“
- „Ein Newbie, ein Neuling im Cyberspace, richtig? Irgendjemand hat dir das BI reingepflanzt, ohne dich richtig zu informieren, und jetzt hast du keinen Plan, korrekt?“
- „So könnte man das wohl ausdrücken. Kennst du dich hier denn aus?“
- „Aber klar doch! Ich bin einer der Entwickler der BI-Software. Naja, genaugenommen bin ich noch Informatikstudent in der Ausbildung, wir helfen manchmal für ein paar Euro aus, wenn Arbeitskräfte fehlen. Da sind noch einige Macken drin im Programm, deswegen müssen wir immer wieder Routineuntersuchungen durchführen. Also paß auf: Das, was jetzt für dich wie eine endlose Ebene aussieht, ist in Wirklichkeit eine dreidimensionale, multisensorische Umsetzung des Cyberspace. Du kannst dich hier frei in alle Richtungen bewegen und alle Sites besuchen, die dich interessieren. Du brauchst nur die Adresse der gewünschten Site zu kennen, dann sprichst du sie aus, und schon steht vor dir ein Zugangsportal zu eben dieser Site. Es gibt Millionen, ja Milliarden von Sites, und diese endlose Leere hier vor dir, das ist nur die Projektion deiner Ahnungslosigkeit. Denke an irgendeine Web-Anschrift, zum Beispiel amazon.com und voila! Schon stehst du vor dem Bücherladen.“
Und tatsächlich: Sobald er es gesagt hatte, tauchte vor uns ein anderes Portal auf, und wenn man hindurchguckte, konnte man dahinter endlose Bücheregalreihen erkennen.
- „Ich wünsche dir ein schönes Leben hier im Cyperspace!“, sagte der Informatikstudent und wollte durch ein anderes Portal mit einer unaussprechlichen Überschrift hindurchgehen.
- „He, warte mal!“, sagte ich und hielt ihn an seinem dürren Ärmchen zurück. „Was soll das heißen, du wünschst mir ein schönes Leben?“
- „Nun ja“, meinte er verlegen, „Wie gesagt, es gibt da einige Macken in der Software. Vor allem haben wir Probleme mit der Zeitvariablen. Das bedeutet, daß man jedesmal, wenn man das BI benutzt, für den Rest seines Lebens im Cyberspace bleiben muß, da es noch keine psychologisch unbedenklichen Möglichkeiten gibt, einen Cyberspace-Reisenden nachher wieder in die Realität zu entlassen. Das ist nicht direkt unser Fehler, es ist ein Bug im Zusammenhang mit der neuen DX-Version, dafür können Sie sich bei Bill Gates bedanken…“
- „WIEBITTE?! Ich bin für den Rest meines Lebens hier gefangen?“ Mir kroch das Grauen als klebrige Spinne über die Haare meines nackten Bauches bis zur Gurgel empor.
- „Nun ja, natürlich nicht für den Rest Ihres wirklichen Lebens! Sondern nur für den Rest Ihres Cyberspace-Lebens. Die Zeit hier hat nichts mit der Zeit da draussen zu tun. Wenn Sie hier dreissig Jahre verbringen, vergehen draussen vielleicht nur dreißig Sekunden. Relativität der Zeit, so ist das nun mal. Ich gebe zu, das ist ein wenig unangenehm. Andererseits werden Sie sich, wenn sie wieder offline sind, an Ihr Leben hier im Cyberspace nicht mehr erinnern können. Sehen Sie‘s also positiv, sie bekommen hier quasi ein Extra-Leben geschenkt.“
- „Ich will aber nicht für den Rest meines Lebens hier bleiben, auch wenn das gar nicht der Rest meines Lebens sein sollte! Ich will hier raus!“
- „Tja, wie gesagt, das ist derzeit leider nicht möglich. Ein Bug, der bestimmt bei der finalen Version der BI-Software gepatcht sein wird. Bei Beta-Versionen muß man schon mal mit kleinen Fehlern rechnen, das stand ja im license agreement auch klar und deutlich drin. Außerdem ist es auch nur halb so schlimm: Wenn Sie keine Freude mehr am Cyberspace haben, dann begehen Sie eben Selbstmord, und schon sind Sie wieder draußen in der Realität. Der Selbstmord hier in der BI-Software entspricht dem Klammeraffengriff Strg+Alt+ESC auf der Tastatur. Damit rebooten Sie ihr System und sind sofort offline. Dabei kann es natürlich zu Datenverlusten kommen.“
- „Also nochmal für einen alten Mann zum Mitschreiben: Wenn ich hier raus will, muß ich nur Selbstmord begehen, richtig? Und ansonsten kann ich alle möglichen Orte besuchen, einfach, indem ich mir ihren Namen vorstelle und ihn ausspreche, ja?“
- „Nun, wie gesagt, beim Rebooten kann es zu Datenverlusten führen, weswegen ich vom Selbstmord eher abraten würde. Und was das Besuchen aller Orte angeht, so gibt es da zwei Einschränkungen. Erstens muß das Aussprechen der Adressen in einem gewissen Toleranzbereich liegen, damit das Programm sie erkennt. Am besten ist es immer, die ganz genaue Adresse einer Seite anzugeben, aber Sie sind ja durch das Portal einer Suchmaschine gekommen, sodaß die Software sozusagen mitdenkt, und allgemeine Stichworte schon genügen.“
Das gefiel mir: “Klasse! Dann brauche ich nur das Stichwort „Sex“ zu sagen, und schon erscheinen mir alle Portale, die in das Wunderland der körperlichen Liebe führen?“
- „Nun ja, theoretisch schon, gewiß. Aber ich sprach ja von zwei Einschränkungen. Die zweite ist in diesem Fall jene, daß wir hier eine pädagogische Sicherheitssperre für Kinder und Jugendliche eingebaut haben, die verhindert, daß der User Seiten mit pornografischen oder gewaltverherrlichenden Inhalten besucht.“
Das traf mich hart. „Also keine feuchten virtuellen Muschis?“
- „Ich befürchte, nein!“
Sprach‘s und verschwand durch ein Portal, auf dem BI_software-engeneering.com stand.

Ich war wieder allein. Sarah hatte mich reingelegt. Und ich würde ihr das nicht mal vorwerfen können, weil ich ja, wenn ich zurück in die Realität käme, alles würde vergessen haben. Was für eine hinterfotzige kleine Hexe! Trotzdem wollte ich natürlich sofort zurück in die Realität. Nur wie? Selbstmord?! Einfach gesagt. Nur hätte ich mir dazu ja, nackt wie ich war, die eigene Kehle per Hand zudrücken müssen. Das brachte ich nun wirklich nicht fertig. Ich hätte Selbstmord nicht mal fertiggebracht, wenn man mir einen garantiert schmerzfrei wirkenden Giftcocktail vorgesetzt hätte. Der Mensch hängt an seinem erbärmlichen Leben, selbst, wenn es sich um ein virtuelles handelt.
Also wollte ich mir vielleicht doch erst mal diese jugendfreien Sachen im Cyberspace angucken. Das Portal von dem magersüchtigen Informatik-Studenten stand noch offen, aber ich hatte keine Lust, ihm nochmal über den Weg zu laufen. Als Schriftsteller dachte ich alphabetisch assoziativ. BH, BI – BG. Also sagte ich einfach so BG vor mich hin. Mal sehen, ob das Programm etwas zu so einer Abkürzung fand.
Zu meiner nicht gelinden Überraschung tauchte tatsächlich ein Portal auf, ein riesiges Ding, mit mittelalterlichen Verzierungen und allerhand Schnickschnack darauf. Oben stand in gotischen Lettern zu lesen:

WELCOME TO BALDURS GATE, WELCOME TO THE SWORD COAST!

Das hörte sich gut an: Schwertküste, das klang nach Strand und Palmen… Ich ging hindurch.