Samstag, November 08, 2014

Traum von Vanillepudding



Irgendwann hatte ich die Schnauze voll, packte meine Siebensachen und zog bei Sally aus.
Doch erst viel später.

Zuerst fing es ganz nett an in Beregost. Nach einer romantisch durchwachten Nacht auf dem Flachdach des Beregoster Tempels hatten uns morgens die anderen aus der Gruppe befreit, indem sie die Wölfe vertrieben. Khalid behauptete, sein sch-sch-scharfes Sch-sch-Schwert habe ihnen Angst eingejagt, Jaheira meinte, sie habe sich auf der nur ihr eigenen Druiden-Ebene mit dem Rudelführer verständigt. Wahrscheinlich aber waren die Viecher vor dem neuen Parfum geflohen, daß Babydoll Moni bei einem schwulen Friseur namens Garrick erstanden hatte. Wie auch immer – nach überstandenem Schrecken fiel Sally und mir auf, daß einer fehlte: Bayan.
Nicht, daß ich darüber besonders traurig gewesen wäre, genaugenommen fiel es mir eher positiv auf. Die anderen berichteten, daß Bayan von der örtlichen Wache wegen Terrorismus-Verdachtes festgenommen worden sei.
„Man hat ihn nach Baldurs Tor verschleppt!“, jammerte Moni. „Dort sitzt er jetzt im Kerker. Im Hochsicherheitstrakt! Der arme Kerl. Er muß jetzt jede Nacht Angst haben, von irgendwelchen Mitgefangenen vergewaltigt zu werden...“
„Da sollte man eher Mitleid mit den anderen Gefangenen haben...“, wendete ich ein.
„Wie auch immer“, sagte Jaheira, „Der Leiter des Hochsicherheitstraktes ist ein echt harter Knochen, von dem hab ich schon gehört. Angelo Giuliani oder so ähnlich... Aus diesem Kerker kommt kaum jemand lebend wieder raus, und wenn, dann als gebrochene Persönlichkeit.“
„Klingt nach ner Einrichtung, die sich um das Allgemeinwohl verdient macht!“, überlegte ich.
Sally sah mich streng von der Seite an.
„Wir müssen ihn da wieder rausholen!“, sagte sie.
„Rausholen?!“, wollte ich wissen. „Aus einem Hochsicherheitstrakt? Wie denn das? Na klar, man kann so ein Gefängnis einfach plattwalzen... Ich hole schon mal den Bulldozer. Wo hatten wir den noch gleich geparkt?“
„Nein, nicht so.“, sagte Sally. „Wir ziehen vor Gericht. Das geht doch nicht, daß sie einfach so Bayan einsperren, ganz ohne Grund...“
„Naja“, gab Jaheira zu bedenken, „Einen Grund haben sie schon: er ist nun mal ein Drow. Seit dem Attentat auf den großen Deumel haben Drow es hierzulande nicht leicht. Es gibt inzwischen Sondergesetze, die erlauben, einen verdächtigen Drow solange ohne Haftbefehl festzuhalten, bis seine Schuld bewiesen ist.“
„Und wenn er unschuldig ist?“, wollte Sally wissen.
„Dann dauert’s natürlich ein bißchen länger.“
„Sehr weise Gesetzgebung!“, befand ich.
„Das ist empörende, brutalste Verletzung sämtlicher Zwergenrechtsstandards!“, ereiferte sich Babydoll Moni. „Sie werden ihn foltern da drinnen, ich weiß das! Erniedrigen und bestehlen werden sie ihn! Man wird ihm seine kärglichen Nahrungsrationen abnehmen und ihn zwingen, die Latrinen mit der Zahnbürste zu säubern. Zu viert werden ihn seine Mithäftlinge festhalten und der fünfte wird ihm ganz langsam und fies den Zeigefinger hinten reindrehen und nach dem Zeigefinger nehmen sie...“
„Wir haben so ungefähr verstanden, worauf du hinauswillst!“, unterbrach Sally sie. „Also nochmal: Da sitzt ein Unschuldiger im Gefängnis und man kann nichts dagegen tun?“
„Doch, schon.“, sagte Jaheira. „Wie in allen Rechtstaaten kann man die Verantwortlichen bestechen. Zehntausend Piepen cash dem Angelo in die Hand – und schon ist Bayan wieder frei.“
„Soviel haben wir nicht“, gab ich freudig zu bedenken. „Im Gegenteil: Wir haben sogar noch Schulden bei diesem Drecksloch von einem Priester im Tempel.“
„Und woher kommt das?“, wollte Jaheira wissen und zog dabei ihre Augenbrauen auf so eine bestimmte, schnippische Art hoch.
„Genau, woher kommt das!“, stimmte Sally zu. „Nicht nur die dreitausend Goldstücke mußten wir aufbringen, ich durfte sogar noch meinen hübschen Knackarsch hinhalten...“
Alle sahen sie mich vorwurfsvoll an, Khalid eingeschlossen. Beim vorwurfsvollen Gucken stotterte er nicht...
„Also jetzt macht mal halblang!“, verteidigte ich mich, „Ich habe nicht darum gebeten, wiedererweckt zu werden. Man hat mich nicht gefragt! Noch nie! Schon meine Mutter hat mich nicht um meine Meinung gebeten, als ich geboren wurde. So ging das immer weiter! Ich schulde niemandem was, ich bin zu nichts verpflichtet, ich habe nichts unterschrieben...“
Die Vier guckten mich immer noch vorwurfsvoll an. Mit fragendem Unterton in den gerunzelten Augenbrauen. Langsam rann mir der Schamschweiß den Rücken runter. Schließlich meinte Sally ganz ruhig: „Na gut, das wäre also geklärt. Wir sollten uns jetzt überlegen, wie wir die zehntausend Piepen für Bayan zusammenbekommen.“
„Wir könnten Straßenmusik machen!“, schlug Moni vor. „Im Priesterseminar habe ich jede Menge Lieder gelernt. Die bringe ich euch bei, wir singen dann so schöne barocke Chöre...“
„ ... und Khalid improvisiert in den oberen Stimmlagen ein wenig“, ergänzte ich.
„Hank hat heute seinen verbindlichen Tag“, sagte Sally. „Und nun möchte er etwas Konstruktives vorschlagen, nicht wahr, mein Schatzzz?“ In ihrem Schatzzz steckte ein ganzer Beutel voller zerstoßener Flaschen, so klirrte sie.

Also suchten wir uns Jobs, die vier Frauen und ich. Khalid heuerte als Reinigungsfachkraft in einer kleinen Kneipe an. Er kratze allmorgendlich die Kacke von den WC-Rändern, fegte die Glasscherben im Schankraum zusammen und spülte die Kotze vor der Eingangstür in den nächsten Gully. Alle vierzehn Tage hatte er einen Nachmittag frei.

Jaheira wurde Unternehmerin. Sie zog zuerst mit einem Bauchladen durch die Gegend, aus dem sie Hustenbonbons, Schnürsenkel und selbstgemixte Teemischungen unter die Leute brachte. Das Geschäft ging gut, bald eröffnete sie einen kleinen Ökoladen mit fair gehandeltem Fischbein aus Zehnstädte, garantiert nebenwirkungsfreien Schönheitscremes aus Aloe-Balsam und unter der Theke angebotenem Dope aus Amn. Dafür bestand Nachfrage, es wurden Pläne zur Expansion durch Filialen in allen wichtigen Städten an der Schwertküste geschmiedet. Man munkelte, Jaheira-Markets würden demnächst an die Börse gehen...

Moni rannte mit schwarzem Spitzenhäubchen und einer Spendenbüchse durch die Gegend, erzählte den Menschen spirituellen Unsinn und verkaufte ihnen selbstgeschriebene Traktate über den Untergang der Welt und die Unterdrückung bärtiger Frauen. Ihr Geschäft lief nicht so gut.

Sally ging wieder ihrer alten Arbeit nach. Entweder, sie nahm sich anscheinend herrenloser Geldbörsen an, oder, da sich derartige Gelegenheiten rar machten, sie hielt ihren kleinen Knackarsch dem Meistbietenden zu temporärer Verfügung hin. Das paßte mir nicht wirklich, das ging gegen meine Ehre. Aber irgendwer mußte ja die Miete zahlen...

Nun gut, ich versuchte, mein Teil dazu beizusteuern. Aber es war nicht so einfach für mich, einen Job zu finden. Ab und an fand sich eine Aufhilfsstelle als Packer, wenn ein ortsansässiger Händler mal eine größere Ladung aus Baldurs Tor oder Tiefwasser geliefert bekam. Aber für so einen Vormittags-Job gab’s natürlich nur Kleingeld. Gerade genug, um sich einen Abend richtig volllaufen zu lassen. Echte Perspektiven eröffneten sich dadurch nicht.
Genaugenommen hatte niemand auf einen wie mich gewartet. Es bestand kein Bedarf an alternden Trinkern mit metertiefen Akne-Narben im Gesicht. Der Arbeitsmarkt in Beregost war wie leergefegt. Wochenlang ergab sich gar nichts. Ich lungerte in der anderthalb-Zimmer-Bude, die Sally für uns beide angemietet hatte, herum, starrte depressiv vor mich hin und trank, was sie von ihren Freiern mit nachhause brachte.
Natürlich fing sie bald an zu meckern. Hank, du solltest dich mal rasieren, Hank, mit so einer Fahne gibt dir kein Personalschef auch nur die Hand, Hank, furz nicht dieses kleine Zimmer voll, schließlich geht das Fenster nicht auf, Hank, du strengst dich einfach nicht genug an... Hank dieses und Hank jenes. Es war keine harmonische Zeit.
Eines Tages hatte Sally großartige Nachrichten für mich. Einer ihrer „Freunde“ sei ein Edelmann, der ein großes Stück Wald etwas weiter nördlich besitze. Dort würden noch Waldarbeiter gebraucht.
„Hey Hank!“, meinte sie, „Das ist genau das Richtige für dich! Einfache, ehrliche Arbeit bei viel frischer Luft. Du bewegst dich mal ein bißchen, und bezahlt wird gut. Dreimal soviel, wie Khalid bei seinem Job verdient. Stell dir das mal vor! Da gibt’s nicht mal irgendwelche Ausbildungsvoraussetzungen. Alles, was zu tun ist, bringen sie dir da bei! Und wenn bestimmte Leistungen erreicht werden, gibt’s Bonuszahlungen. Mensch, da kannst du richtig reich werden!“ Ich war skeptisch, aber nicht in der Position, das Angebot abzulehnen.

Das Holzfällerlager, wo ich meinen neuen Job anfangen sollte, lag ein ganzes Stück weiter nördlich als Beregost. Es lag so weit entfernt, daß ich die Hoffnung, abends nach der Arbeit heim zu Sally zu fahren, gleich begraben konnte. Das sagte mir der Typ, der hier in Beregost die Leute anwarb.
Er saß in einem winzigen Büro. Das Büro war wohl nur für diesen einen Tag angemietet. Es stand darin ein Bürosessel mit Lehne und davor ein Schreibtisch. Links an der Wand hing ein Bild mit einer großen, roten Ameise drauf. Die Ameise balancierte einen gelben Helm zwischen ihren Fühlern und trug eine Säge in der Hand. Das war natürlich Blödsinn, weil Ameisen ja eigentlich gar keine Hand haben. Diese hatte sogar mehrere. Mit einer anderen Hand, die sie zur Faust geballt hatte, grüßte sie kernig aus dem Bild heraus. In einem Bogen über der Ameise stand in Goldbuchstaben: DIE WALDAMEISE – DEINE HILFE UND DEIN VORBILD!
Unten drunter war der Name des Unternehmens gedruckt: „Spider-Forest Wood-works inc.“
Ich kam also in das Büro mit der kernigen Ameise und baute mich vor dem Schreibtisch auf. Da war kein Stuhl oder sowas. Man mußte stehen. Der Typ auf dem Bürosessel hinter dem Schreibtisch hieß Marlsen. Stand auf einem Schild, das er sich ans Hemd geheftet hatte. Marlsen war klein und wirkte ziemlich zäh. Seine eine Hand fuhr beim Sprechen immer wie ein Besen über dem Tisch hin und her. Er hatte kurze Haare und seine Augen waren stumpf, aber aufmerksam.
„Chinasky“, begrüßte er mich, „Chinasky – Sie suchen einen Job, wir können Ihnen einen solchen anbieten.“ Er schaute mich mit einem spitzen Grinsen an, als erwarte er, daß ich darauf was Kluges antwortete. Eine Ratte. Eine smarte Karrierenratte.
„Mister Marlsen, das hört sich gut an.“, sagte ich. „Ich nehm den Job.“
Er lachte. Es klang wie der Balzgesang eines asthmatischen Gürteltiers.
Oho, Chinasky, oho! Einer von der schnellen Sorte, wie? Die Frage ist doch: passen Sie zu uns? Wie sieht Ihre Arbeitseinstellung aus? Ha’m Sie schon mal als Waldarbeiter rangeklotzt? Buchen gepflanzt, Krüppelholz gerodet, Fichten entastet?“
Ich hatte noch nie etwas mit Bäumen anfangen können. Pflanzen waren nicht mein Ding, nicht mal mit Gänseblümchen hatte ich bislang warm werden können.
„Ja, Mister Marlsen, ich hab schon in diversen Forsten gearbeitet. Entasten, Pflanzen, Roden – das volle Programm. Ich mag die Arbeit. Die frische Luft und so. Daß man was mitkriegt von dem Wetter und den Jahreszeiten. Die herzhafte Art der Kommunikation unter den Arbeitern. Nicht lange rumreden, anpacken. Daß man abends merkt, was man getan hat. Unser Herrgott hat damals schon dem Adam gesagt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verzehren...“
„Genug, genug! Ich sehe, Sie passen genau in unser Team. Morgen um halb fünf geht der Ochsenkarren hier auf dem Marktplatz ab. Er wird Sie und Ihre neuen Kollegen in unser Arbeitercamp im Spider Forest bringen. Seien Sie pünktlich, wir wollen nicht erst nach Sonnenaufgang aufbrechen, sonst müssen wir unterwegs übernachten und ein Arbeitstag ist verloren.“
Kurz war ich geschockt. Die Ratte meinte halb fünf Uhr morgens! Aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Ich werde da sein, Mister Marlsen, kein Problem. Wegen der Bezahlung...“
„Ah ja, ah ja, die Bezahlung. Klar, Chinasky, gut, daß Sie fragen. Also Sie haben schon in anderen Forsten gearbeitet – dürfte ich bitte Ihre Beurteilungsschreiben aus diesen Arbeitsverhältnissen sehen?“
„Sowas hab ich nicht. Da, wo ich gearbeitet habe, legte man keinen Wert auf Papierkram. Wir haben malocht, abends gab’s den Lohn bar auf die Kralle...“
„Nun, Mister Chinasky, das läuft bei uns etwas anders. Es muß alles seine Ordnung haben bei uns, die Bücher müssen stimmen. Wir können nur ausgewiesenen Fachkräften den vollen Lohn zahlen. Wer nicht belegen kann, daß er die Arbeit schon aus dem Effeff beherrscht, muß zunächst mit Abschlägen rechnen, solange, bis sein Vorarbeiter ihn höher einstuft. Also fangen Sie mit einem niedrigeren Grundgehalt an. Wir zahlen Ihnen erstmal vierzehn Kupferpfennige die Woche, also zwei Pfennig pro Tag. Macht nach weniger als zwei Monaten schon einen Goldtaler! Da sind die Boni für Plansollübererfüllung noch gar nicht mal eingerechnet. Und wenn der Vorarbeiter Ihnen bescheinigt, daß Sie gut und professionell arbeiten, erhöht sich der Lohn auf dreieinhalb Pfennige pro Tag!“
„Mister Marlsen, ich hatte mit mindestens vier Pfennigen pro Tag gerechnet. Man muß doch auch irgendwovon leben!“
„Wir haben im Camp einen Händler, bei dem Sie alle Artikel des täglichen Gebrauchs günstig erstehen können, günstiger als hier in Beregost! Sie können sogar bei ihm anschreiben lassen.“
„Ja gut, aber zwei Pfennig pro Tag...“
„Chinasky, wir haben allerhand andere Bewerber für den Job. Wolln sie ihn oder was?!“
„Ja, sicher...“
„Na dann ist ja alles in bester Ordnung. Wir sehen uns morgen früh. Ach ja: Arbeitskleidung nicht vergessen!“
Damit war ich draussen.

In der Nacht träumte ich von Heerscharen behelmter Ameisen, die um einen großen Vanille-Pudding rumliefen und mit Kettensägen versuchten, Stücke davon herauszutrennen. Sie machten einen Höllenlärm mit diesen Dingern, sie fuchtelten wie wild damit herum und stachen von oben in den Pudding rein. Aber immer, wenn sie unten mit der Säge ankamen, hatte sich oben die glibberige Masse schon wieder geschlossen. Statt sich darüber zu ärgern, fingen die Ameisen wieder oben an zu sägen. Es war ein Bild der Sinnlosigkeit. Dabei sangen sie fröhlich. Ich stand mitten auf diesem klebrigen Puddig und versuchte, ein paar Gänseblümchen, die ich gepflanzt hatte, durch Streicheln dazu zu bewegen, ihre Wurzeln in diesen wabbeligen Pudding reinzustecken. Sie zierten sich, mochten wohl keine Vanille. Es war aber nun mal mein Job, diese Gänseblümchen da anzupflanzen, es war Akkordarbeit, wenn ich das verfickte Grünzeug nicht zum Wachsen brachte, gab’s kein Geld. „Ihr dreckigen, miesen, hinterhältigen Blütenköppe, jetzt habt euch nicht so, wachst endlich, verdammichnochmal!“ brülle ich sie an. Aber die Gänseblümchen wußten, daß sie am längeren Hebel saßen und kicherten nur so vor sich hin. Ich kriegte einen Riesenhaß auf alles, was Chlorophyll in seinen Blättern trug. Vor Wut stampfte ich mit dem Fuß auf. Dabei druchbrach ich die dünne Haut des Puddings und sank mit dem Fuß bis zum Knie im Vanillematsch ein. Als ich das Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte, um mich wieder rauszuziehen, riß auch unter dem die Haut, und bald steckte ich bis zur Hüfte im Glibber. Ich kriegte die Panik, ich wußte, ich würde in Vanillesoße untergehen und ersaufen, ich schrie um Hilfe, aber niemand achtete darauf. Unten, am Fuß des Riesenpuddings, marschierten immer noch die Sicherheitshelmameisen im Kreis und sangen Arbeiterlieder...

Schweißgebadet erwachte ich. Es war stockdunkel, aber Sally rüttelte mich. Sie roch nach Vanille. Im ersten Moment dachte ich, sie wolle ficken.
„Oh Baby, nicht mitten in der Nacht! Wie kann man es so nötig haben?“, stöhnte ich.
„Es ist kurz nach vier, Hank! Pack Deine Sachen! Du mußt los, sonst fährt der Holzfällerwagen ohne dich ab.“

Eine knappe halbe Stunde später stand ich auf dem Marktplatz, wo sich schon die anderen neuen Arbeiter versammelt hatten. Es war noch stockfinster. Es regnete. Es war kalt wie das Lächeln des Sensenmannes und ich hatte einen Kater. Man hätte meinen können, es werde bestimmt nicht noch schlimmer.

Wir waren insgesamt zwölf Männer plus Marlsen und der Fahrer des Wagens. Es handelte sich um einen ziemlich großen Lastkarren mit vier riesigen Holzrädern und zwei Ochsen davor. Die Ochsen waren riesig und schwarz. Der Regen, der auf ihre breiten Rücken pladderte, verdunstete dort, sodaß über ihnen kleine Dampfwolken aufstiegen. Sie stanken nach Jauche, Tod und Wahnsinn. Im Gegensatz zu normalen, friedlichen Milchkühen hatten sie sehr kleine Augen, blutunterlaufen. Man hatte ihnen Eisenringe durch die Nasen gebohrt. An diesen Ringen war ein stabiles Band befestigt, das der Kutscher in der Hand hielt. Er brauchte wohl neben seiner Peitsche ein zusätzliches Druckmittel, um diese Muskelberge zu motivieren. Die Tiere guckten mißmutig und der Sabber lief ihnen an der Seite aus dem Maul. Ab und an schlugen sie mit ihren schlammverkrusteten Schwänzen hin und her. Dabei flogen kleine Dreckbrocken durch die Gegend. Wenn ich als Kind meine Tante besucht hatte, war da immer Ochsenschwanzsuppe aufgetischt worden.
Auf dem Wagen waren längseitig zwei Bänke montiert. Auf jeder Seite saßen sechs von uns. Wir waren so gezwungen, die ganze Zeit über die andere Reihe anzugucken, wie deren Köpfe bei jedem Schlagloch hin und her, hoch und runter schlenkerten. Ich mußte an eine aufblasbare Sexpuppe denken, die mir ein paar Kumpel vor Jahren mal zum Geburtstag geschenkt hatten. Das war der reinste Nepp gewesen: der Kopf durch einen viel zu dünnen Hals an den Körper geklebt, und wenn man die Puppe hin und her schüttelte, dann wackelte ihr Schädel, als würde er gleich abfallen.

Von den Kopfbewegungen mal abgesehen, hatten die Jungs hier im Wagen wenig mit Sexpuppen zu tun. In der Dunkelheit hatte ich sie gar nicht richtig sehen können, aber jetzt, wo wir uns gegenübersaßen und die Dämmerung langsam den Hintern hochkriegte, konnte ich sie mir besser betrachten. Außer Marlsen, der sich neben den Kutscher gepflanzt hatte, war ich der einzige Mensch auf dem Wagen.
Eigentlich bin ich kein Hänfling, mit meinen einsfünfundachzig und dem Bierbauch. Aber die anderen Jungs auf dem Wagen sahen um einiges stabiler aus als ich. Die Hälfte von ihnen trug lange Bärte. Zwerge. Ich hatte mir als Kind Zwerge immer winzig klein vorgestellt. Doch die hier waren alles andere als klein. Na gut, sicherlich reichten sie nicht weit nach oben, sie gingen mir vielleicht so bist zur Brust. Aber dafür luden sie zu den Seiten aus wie spanische Galeonen unter vollen Segeln. Ihre Oberkörper waren breiter als lang, ihre Arme glichen riesigen roten, dicken Bohnen. Der Kleinste unter ihnen wog garantiert ebenso viel wie ich. Ohne ein Gramm Fett.
Sie redeten nicht viel, und wenn, dann nur untereinander in einer Sprache, die ich nicht verstand und die vor allem aus Gurgeln und Schnalzen zu bestehen schien. Vielleicht waren es aber auch nur Verdauungsprobleme.
Dann waren da noch sechs grünhäutige Typen mit schwarzen Haaren. Sie waren nicht direkt groß. Sie waren vielmehr riesig. Lang wie Basketballspieler, Figuren durch die Bank wie Schwarzenegger. Ich schätze mal, daß jeder von denen gute hunderfünfzig Kilo auf die Waage gebracht hätte. Wieder ohne Fett.
Sie redeten nur untereinander. Wenn einer von ihnen mich anguckte, dann konnte ich in seinen Augen sehen, was er von mir hielt: Für ihn war ich ein kleiner Haufen weißhäutiger Dreck, etwas, daß er sich morgens nach dem Frühstück zwischen den Zähnen rauspulte.
So zuckelte ich in einem Ochsenwagen dahin. Allein mit elf Typen, die ihren wilden Träumen nachhingen, in welchen Opfer wie ich nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht wurden. Und unsere Köpfe schaukelten hin und her und hin und her.

Es regnete weiterhin. Der Wagen hatte kein Dach, auch keine Zeltplane oder sowas für obendrüber. Bald waren wir alle durchweicht wie Madeleines, die man in Tee tunkt. Immer, wenn der Wagen über eine besonders tiefe Rille holperte, wurde ich hochgeworfen und knallte dann mit einem nassen Squwatsch! wieder auf die Bank. Den Zwergen ging es nicht anders, aber die Grünhäutigen waren zu schwer für dieses Flummigehopse. Die Bank ächzte unter ihnen und ich wartete darauf, daß sie irgendwann brechen möge. Doch sie hielt durch.

Gegen Mittag stoppte der Wagen. Unweit des Wegs war eine Art Unterstand aus Felsgestein, der wohl häufig als Rastplatz genutzt wurde, denn es fand sich unter den überhängenden Felsen auch eine Feuerstelle. Allerdings wehte der Regen unter die Felsen und es gab kein trockenes Holz, mit dem wir ein Feuer hätten machen können. Marlsen hatte in einem Sack mehrere Dosen Erbsensuppe und einen Stapel Blechteller. Er warf uns den Sack zu und ging dann zusammen mit dem Kutscher rüber zu einem kleinen Gasthaus, das in Sichtweite vom Rastplatz stand und aus dem Schornstein dampfte. Da ich keine Lust auf kalte Erbsensuppe hatte, ging ich ihnen nach. Aber das Gasthaus hatte einen Türsteher mit Löwenmähne und Zungenpiercing, der mich nicht reinließ. Nur für zahlende Gäste...
Also ging ich zurück zu den anderen. Die hatten inzwischen die Erbsensuppe unter sich aufgeteilt. Es war eine gute Erbsensuppe, mit dicken Wurststücken drin, und sie roch verführerisch. Ich kriegte nichts ab. Während die anderen grunzend fraßen, ging ich mit knurrendem Magen rüber zu den Ochsen, nur, um irgendwas zu tun zu haben. Die Ochsen zupften ein paar Grasbüschel raus, die für sie erreichbar waren. Nicht gerade die richtige Portion für solche Fleischberge. Ihnen ging wohl was ähnliches durch die Köpfe, denn als ich einem von ihnen nahe kam, um ihn zu streicheln, versuchte der, mich zu beißen. Er war zu langsam und erwischte meine Hand nicht. Wütend stampfte und scharrte er mit den Hufen und brüllte, daß mir die Eingeweide flatterten. Wir fanden irgendwie keine gemeinsame Basis, der Ochse und ich.

Eine halbe Stunde später ging es weiter. Wir saßen wieder auf den Längsbänken und ließen unsere Köpfe wackeln. Die Grünhäutigen hatten sich anscheinend während der Pause gegen mich verbündet. Jetzt ließen sie verschiedenartigste Beleidigungen vom Stapel.
„Ey, Chinasky, du hast die häßlichste Visage, die mir je begegnet ist!“
„Hey, Weißarsch! Hamse dich in Domestos gebadet oder was?!“
„Chinasky, ich hab deine Mutter von hinten gepimpert!“
„Hey, Kleiner, ich freu mich schon auf die gemeinsamen Abende im Camp. Gibt’s da ne Liste, in die man sich eintragen muß, oder hälst du jedem deinen Arsch hin?“
Ich guckte zwischen ihnen hindurch auf die vorbeiziehende Regenlandschaft und tat, als würde mich das alles nichts angehen. Was soll's, dachte ich. Schließlich sind wir nicht auf dem Weg zu einem fröhlichen Ferienlager.