Samstag, November 08, 2014

Traum von Vanillepudding



Irgendwann hatte ich die Schnauze voll, packte meine Siebensachen und zog bei Sally aus.
Doch erst viel später.

Zuerst fing es ganz nett an in Beregost. Nach einer romantisch durchwachten Nacht auf dem Flachdach des Beregoster Tempels hatten uns morgens die anderen aus der Gruppe befreit, indem sie die Wölfe vertrieben. Khalid behauptete, sein sch-sch-scharfes Sch-sch-Schwert habe ihnen Angst eingejagt, Jaheira meinte, sie habe sich auf der nur ihr eigenen Druiden-Ebene mit dem Rudelführer verständigt. Wahrscheinlich aber waren die Viecher vor dem neuen Parfum geflohen, daß Babydoll Moni bei einem schwulen Friseur namens Garrick erstanden hatte. Wie auch immer – nach überstandenem Schrecken fiel Sally und mir auf, daß einer fehlte: Bayan.
Nicht, daß ich darüber besonders traurig gewesen wäre, genaugenommen fiel es mir eher positiv auf. Die anderen berichteten, daß Bayan von der örtlichen Wache wegen Terrorismus-Verdachtes festgenommen worden sei.
„Man hat ihn nach Baldurs Tor verschleppt!“, jammerte Moni. „Dort sitzt er jetzt im Kerker. Im Hochsicherheitstrakt! Der arme Kerl. Er muß jetzt jede Nacht Angst haben, von irgendwelchen Mitgefangenen vergewaltigt zu werden...“
„Da sollte man eher Mitleid mit den anderen Gefangenen haben...“, wendete ich ein.
„Wie auch immer“, sagte Jaheira, „Der Leiter des Hochsicherheitstraktes ist ein echt harter Knochen, von dem hab ich schon gehört. Angelo Giuliani oder so ähnlich... Aus diesem Kerker kommt kaum jemand lebend wieder raus, und wenn, dann als gebrochene Persönlichkeit.“
„Klingt nach ner Einrichtung, die sich um das Allgemeinwohl verdient macht!“, überlegte ich.
Sally sah mich streng von der Seite an.
„Wir müssen ihn da wieder rausholen!“, sagte sie.
„Rausholen?!“, wollte ich wissen. „Aus einem Hochsicherheitstrakt? Wie denn das? Na klar, man kann so ein Gefängnis einfach plattwalzen... Ich hole schon mal den Bulldozer. Wo hatten wir den noch gleich geparkt?“
„Nein, nicht so.“, sagte Sally. „Wir ziehen vor Gericht. Das geht doch nicht, daß sie einfach so Bayan einsperren, ganz ohne Grund...“
„Naja“, gab Jaheira zu bedenken, „Einen Grund haben sie schon: er ist nun mal ein Drow. Seit dem Attentat auf den großen Deumel haben Drow es hierzulande nicht leicht. Es gibt inzwischen Sondergesetze, die erlauben, einen verdächtigen Drow solange ohne Haftbefehl festzuhalten, bis seine Schuld bewiesen ist.“
„Und wenn er unschuldig ist?“, wollte Sally wissen.
„Dann dauert’s natürlich ein bißchen länger.“
„Sehr weise Gesetzgebung!“, befand ich.
„Das ist empörende, brutalste Verletzung sämtlicher Zwergenrechtsstandards!“, ereiferte sich Babydoll Moni. „Sie werden ihn foltern da drinnen, ich weiß das! Erniedrigen und bestehlen werden sie ihn! Man wird ihm seine kärglichen Nahrungsrationen abnehmen und ihn zwingen, die Latrinen mit der Zahnbürste zu säubern. Zu viert werden ihn seine Mithäftlinge festhalten und der fünfte wird ihm ganz langsam und fies den Zeigefinger hinten reindrehen und nach dem Zeigefinger nehmen sie...“
„Wir haben so ungefähr verstanden, worauf du hinauswillst!“, unterbrach Sally sie. „Also nochmal: Da sitzt ein Unschuldiger im Gefängnis und man kann nichts dagegen tun?“
„Doch, schon.“, sagte Jaheira. „Wie in allen Rechtstaaten kann man die Verantwortlichen bestechen. Zehntausend Piepen cash dem Angelo in die Hand – und schon ist Bayan wieder frei.“
„Soviel haben wir nicht“, gab ich freudig zu bedenken. „Im Gegenteil: Wir haben sogar noch Schulden bei diesem Drecksloch von einem Priester im Tempel.“
„Und woher kommt das?“, wollte Jaheira wissen und zog dabei ihre Augenbrauen auf so eine bestimmte, schnippische Art hoch.
„Genau, woher kommt das!“, stimmte Sally zu. „Nicht nur die dreitausend Goldstücke mußten wir aufbringen, ich durfte sogar noch meinen hübschen Knackarsch hinhalten...“
Alle sahen sie mich vorwurfsvoll an, Khalid eingeschlossen. Beim vorwurfsvollen Gucken stotterte er nicht...
„Also jetzt macht mal halblang!“, verteidigte ich mich, „Ich habe nicht darum gebeten, wiedererweckt zu werden. Man hat mich nicht gefragt! Noch nie! Schon meine Mutter hat mich nicht um meine Meinung gebeten, als ich geboren wurde. So ging das immer weiter! Ich schulde niemandem was, ich bin zu nichts verpflichtet, ich habe nichts unterschrieben...“
Die Vier guckten mich immer noch vorwurfsvoll an. Mit fragendem Unterton in den gerunzelten Augenbrauen. Langsam rann mir der Schamschweiß den Rücken runter. Schließlich meinte Sally ganz ruhig: „Na gut, das wäre also geklärt. Wir sollten uns jetzt überlegen, wie wir die zehntausend Piepen für Bayan zusammenbekommen.“
„Wir könnten Straßenmusik machen!“, schlug Moni vor. „Im Priesterseminar habe ich jede Menge Lieder gelernt. Die bringe ich euch bei, wir singen dann so schöne barocke Chöre...“
„ ... und Khalid improvisiert in den oberen Stimmlagen ein wenig“, ergänzte ich.
„Hank hat heute seinen verbindlichen Tag“, sagte Sally. „Und nun möchte er etwas Konstruktives vorschlagen, nicht wahr, mein Schatzzz?“ In ihrem Schatzzz steckte ein ganzer Beutel voller zerstoßener Flaschen, so klirrte sie.

Also suchten wir uns Jobs, die vier Frauen und ich. Khalid heuerte als Reinigungsfachkraft in einer kleinen Kneipe an. Er kratze allmorgendlich die Kacke von den WC-Rändern, fegte die Glasscherben im Schankraum zusammen und spülte die Kotze vor der Eingangstür in den nächsten Gully. Alle vierzehn Tage hatte er einen Nachmittag frei.

Jaheira wurde Unternehmerin. Sie zog zuerst mit einem Bauchladen durch die Gegend, aus dem sie Hustenbonbons, Schnürsenkel und selbstgemixte Teemischungen unter die Leute brachte. Das Geschäft ging gut, bald eröffnete sie einen kleinen Ökoladen mit fair gehandeltem Fischbein aus Zehnstädte, garantiert nebenwirkungsfreien Schönheitscremes aus Aloe-Balsam und unter der Theke angebotenem Dope aus Amn. Dafür bestand Nachfrage, es wurden Pläne zur Expansion durch Filialen in allen wichtigen Städten an der Schwertküste geschmiedet. Man munkelte, Jaheira-Markets würden demnächst an die Börse gehen...

Moni rannte mit schwarzem Spitzenhäubchen und einer Spendenbüchse durch die Gegend, erzählte den Menschen spirituellen Unsinn und verkaufte ihnen selbstgeschriebene Traktate über den Untergang der Welt und die Unterdrückung bärtiger Frauen. Ihr Geschäft lief nicht so gut.

Sally ging wieder ihrer alten Arbeit nach. Entweder, sie nahm sich anscheinend herrenloser Geldbörsen an, oder, da sich derartige Gelegenheiten rar machten, sie hielt ihren kleinen Knackarsch dem Meistbietenden zu temporärer Verfügung hin. Das paßte mir nicht wirklich, das ging gegen meine Ehre. Aber irgendwer mußte ja die Miete zahlen...

Nun gut, ich versuchte, mein Teil dazu beizusteuern. Aber es war nicht so einfach für mich, einen Job zu finden. Ab und an fand sich eine Aufhilfsstelle als Packer, wenn ein ortsansässiger Händler mal eine größere Ladung aus Baldurs Tor oder Tiefwasser geliefert bekam. Aber für so einen Vormittags-Job gab’s natürlich nur Kleingeld. Gerade genug, um sich einen Abend richtig volllaufen zu lassen. Echte Perspektiven eröffneten sich dadurch nicht.
Genaugenommen hatte niemand auf einen wie mich gewartet. Es bestand kein Bedarf an alternden Trinkern mit metertiefen Akne-Narben im Gesicht. Der Arbeitsmarkt in Beregost war wie leergefegt. Wochenlang ergab sich gar nichts. Ich lungerte in der anderthalb-Zimmer-Bude, die Sally für uns beide angemietet hatte, herum, starrte depressiv vor mich hin und trank, was sie von ihren Freiern mit nachhause brachte.
Natürlich fing sie bald an zu meckern. Hank, du solltest dich mal rasieren, Hank, mit so einer Fahne gibt dir kein Personalschef auch nur die Hand, Hank, furz nicht dieses kleine Zimmer voll, schließlich geht das Fenster nicht auf, Hank, du strengst dich einfach nicht genug an... Hank dieses und Hank jenes. Es war keine harmonische Zeit.
Eines Tages hatte Sally großartige Nachrichten für mich. Einer ihrer „Freunde“ sei ein Edelmann, der ein großes Stück Wald etwas weiter nördlich besitze. Dort würden noch Waldarbeiter gebraucht.
„Hey Hank!“, meinte sie, „Das ist genau das Richtige für dich! Einfache, ehrliche Arbeit bei viel frischer Luft. Du bewegst dich mal ein bißchen, und bezahlt wird gut. Dreimal soviel, wie Khalid bei seinem Job verdient. Stell dir das mal vor! Da gibt’s nicht mal irgendwelche Ausbildungsvoraussetzungen. Alles, was zu tun ist, bringen sie dir da bei! Und wenn bestimmte Leistungen erreicht werden, gibt’s Bonuszahlungen. Mensch, da kannst du richtig reich werden!“ Ich war skeptisch, aber nicht in der Position, das Angebot abzulehnen.

Das Holzfällerlager, wo ich meinen neuen Job anfangen sollte, lag ein ganzes Stück weiter nördlich als Beregost. Es lag so weit entfernt, daß ich die Hoffnung, abends nach der Arbeit heim zu Sally zu fahren, gleich begraben konnte. Das sagte mir der Typ, der hier in Beregost die Leute anwarb.
Er saß in einem winzigen Büro. Das Büro war wohl nur für diesen einen Tag angemietet. Es stand darin ein Bürosessel mit Lehne und davor ein Schreibtisch. Links an der Wand hing ein Bild mit einer großen, roten Ameise drauf. Die Ameise balancierte einen gelben Helm zwischen ihren Fühlern und trug eine Säge in der Hand. Das war natürlich Blödsinn, weil Ameisen ja eigentlich gar keine Hand haben. Diese hatte sogar mehrere. Mit einer anderen Hand, die sie zur Faust geballt hatte, grüßte sie kernig aus dem Bild heraus. In einem Bogen über der Ameise stand in Goldbuchstaben: DIE WALDAMEISE – DEINE HILFE UND DEIN VORBILD!
Unten drunter war der Name des Unternehmens gedruckt: „Spider-Forest Wood-works inc.“
Ich kam also in das Büro mit der kernigen Ameise und baute mich vor dem Schreibtisch auf. Da war kein Stuhl oder sowas. Man mußte stehen. Der Typ auf dem Bürosessel hinter dem Schreibtisch hieß Marlsen. Stand auf einem Schild, das er sich ans Hemd geheftet hatte. Marlsen war klein und wirkte ziemlich zäh. Seine eine Hand fuhr beim Sprechen immer wie ein Besen über dem Tisch hin und her. Er hatte kurze Haare und seine Augen waren stumpf, aber aufmerksam.
„Chinasky“, begrüßte er mich, „Chinasky – Sie suchen einen Job, wir können Ihnen einen solchen anbieten.“ Er schaute mich mit einem spitzen Grinsen an, als erwarte er, daß ich darauf was Kluges antwortete. Eine Ratte. Eine smarte Karrierenratte.
„Mister Marlsen, das hört sich gut an.“, sagte ich. „Ich nehm den Job.“
Er lachte. Es klang wie der Balzgesang eines asthmatischen Gürteltiers.
Oho, Chinasky, oho! Einer von der schnellen Sorte, wie? Die Frage ist doch: passen Sie zu uns? Wie sieht Ihre Arbeitseinstellung aus? Ha’m Sie schon mal als Waldarbeiter rangeklotzt? Buchen gepflanzt, Krüppelholz gerodet, Fichten entastet?“
Ich hatte noch nie etwas mit Bäumen anfangen können. Pflanzen waren nicht mein Ding, nicht mal mit Gänseblümchen hatte ich bislang warm werden können.
„Ja, Mister Marlsen, ich hab schon in diversen Forsten gearbeitet. Entasten, Pflanzen, Roden – das volle Programm. Ich mag die Arbeit. Die frische Luft und so. Daß man was mitkriegt von dem Wetter und den Jahreszeiten. Die herzhafte Art der Kommunikation unter den Arbeitern. Nicht lange rumreden, anpacken. Daß man abends merkt, was man getan hat. Unser Herrgott hat damals schon dem Adam gesagt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verzehren...“
„Genug, genug! Ich sehe, Sie passen genau in unser Team. Morgen um halb fünf geht der Ochsenkarren hier auf dem Marktplatz ab. Er wird Sie und Ihre neuen Kollegen in unser Arbeitercamp im Spider Forest bringen. Seien Sie pünktlich, wir wollen nicht erst nach Sonnenaufgang aufbrechen, sonst müssen wir unterwegs übernachten und ein Arbeitstag ist verloren.“
Kurz war ich geschockt. Die Ratte meinte halb fünf Uhr morgens! Aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Ich werde da sein, Mister Marlsen, kein Problem. Wegen der Bezahlung...“
„Ah ja, ah ja, die Bezahlung. Klar, Chinasky, gut, daß Sie fragen. Also Sie haben schon in anderen Forsten gearbeitet – dürfte ich bitte Ihre Beurteilungsschreiben aus diesen Arbeitsverhältnissen sehen?“
„Sowas hab ich nicht. Da, wo ich gearbeitet habe, legte man keinen Wert auf Papierkram. Wir haben malocht, abends gab’s den Lohn bar auf die Kralle...“
„Nun, Mister Chinasky, das läuft bei uns etwas anders. Es muß alles seine Ordnung haben bei uns, die Bücher müssen stimmen. Wir können nur ausgewiesenen Fachkräften den vollen Lohn zahlen. Wer nicht belegen kann, daß er die Arbeit schon aus dem Effeff beherrscht, muß zunächst mit Abschlägen rechnen, solange, bis sein Vorarbeiter ihn höher einstuft. Also fangen Sie mit einem niedrigeren Grundgehalt an. Wir zahlen Ihnen erstmal vierzehn Kupferpfennige die Woche, also zwei Pfennig pro Tag. Macht nach weniger als zwei Monaten schon einen Goldtaler! Da sind die Boni für Plansollübererfüllung noch gar nicht mal eingerechnet. Und wenn der Vorarbeiter Ihnen bescheinigt, daß Sie gut und professionell arbeiten, erhöht sich der Lohn auf dreieinhalb Pfennige pro Tag!“
„Mister Marlsen, ich hatte mit mindestens vier Pfennigen pro Tag gerechnet. Man muß doch auch irgendwovon leben!“
„Wir haben im Camp einen Händler, bei dem Sie alle Artikel des täglichen Gebrauchs günstig erstehen können, günstiger als hier in Beregost! Sie können sogar bei ihm anschreiben lassen.“
„Ja gut, aber zwei Pfennig pro Tag...“
„Chinasky, wir haben allerhand andere Bewerber für den Job. Wolln sie ihn oder was?!“
„Ja, sicher...“
„Na dann ist ja alles in bester Ordnung. Wir sehen uns morgen früh. Ach ja: Arbeitskleidung nicht vergessen!“
Damit war ich draussen.

In der Nacht träumte ich von Heerscharen behelmter Ameisen, die um einen großen Vanille-Pudding rumliefen und mit Kettensägen versuchten, Stücke davon herauszutrennen. Sie machten einen Höllenlärm mit diesen Dingern, sie fuchtelten wie wild damit herum und stachen von oben in den Pudding rein. Aber immer, wenn sie unten mit der Säge ankamen, hatte sich oben die glibberige Masse schon wieder geschlossen. Statt sich darüber zu ärgern, fingen die Ameisen wieder oben an zu sägen. Es war ein Bild der Sinnlosigkeit. Dabei sangen sie fröhlich. Ich stand mitten auf diesem klebrigen Puddig und versuchte, ein paar Gänseblümchen, die ich gepflanzt hatte, durch Streicheln dazu zu bewegen, ihre Wurzeln in diesen wabbeligen Pudding reinzustecken. Sie zierten sich, mochten wohl keine Vanille. Es war aber nun mal mein Job, diese Gänseblümchen da anzupflanzen, es war Akkordarbeit, wenn ich das verfickte Grünzeug nicht zum Wachsen brachte, gab’s kein Geld. „Ihr dreckigen, miesen, hinterhältigen Blütenköppe, jetzt habt euch nicht so, wachst endlich, verdammichnochmal!“ brülle ich sie an. Aber die Gänseblümchen wußten, daß sie am längeren Hebel saßen und kicherten nur so vor sich hin. Ich kriegte einen Riesenhaß auf alles, was Chlorophyll in seinen Blättern trug. Vor Wut stampfte ich mit dem Fuß auf. Dabei druchbrach ich die dünne Haut des Puddings und sank mit dem Fuß bis zum Knie im Vanillematsch ein. Als ich das Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte, um mich wieder rauszuziehen, riß auch unter dem die Haut, und bald steckte ich bis zur Hüfte im Glibber. Ich kriegte die Panik, ich wußte, ich würde in Vanillesoße untergehen und ersaufen, ich schrie um Hilfe, aber niemand achtete darauf. Unten, am Fuß des Riesenpuddings, marschierten immer noch die Sicherheitshelmameisen im Kreis und sangen Arbeiterlieder...

Schweißgebadet erwachte ich. Es war stockdunkel, aber Sally rüttelte mich. Sie roch nach Vanille. Im ersten Moment dachte ich, sie wolle ficken.
„Oh Baby, nicht mitten in der Nacht! Wie kann man es so nötig haben?“, stöhnte ich.
„Es ist kurz nach vier, Hank! Pack Deine Sachen! Du mußt los, sonst fährt der Holzfällerwagen ohne dich ab.“

Eine knappe halbe Stunde später stand ich auf dem Marktplatz, wo sich schon die anderen neuen Arbeiter versammelt hatten. Es war noch stockfinster. Es regnete. Es war kalt wie das Lächeln des Sensenmannes und ich hatte einen Kater. Man hätte meinen können, es werde bestimmt nicht noch schlimmer.

Wir waren insgesamt zwölf Männer plus Marlsen und der Fahrer des Wagens. Es handelte sich um einen ziemlich großen Lastkarren mit vier riesigen Holzrädern und zwei Ochsen davor. Die Ochsen waren riesig und schwarz. Der Regen, der auf ihre breiten Rücken pladderte, verdunstete dort, sodaß über ihnen kleine Dampfwolken aufstiegen. Sie stanken nach Jauche, Tod und Wahnsinn. Im Gegensatz zu normalen, friedlichen Milchkühen hatten sie sehr kleine Augen, blutunterlaufen. Man hatte ihnen Eisenringe durch die Nasen gebohrt. An diesen Ringen war ein stabiles Band befestigt, das der Kutscher in der Hand hielt. Er brauchte wohl neben seiner Peitsche ein zusätzliches Druckmittel, um diese Muskelberge zu motivieren. Die Tiere guckten mißmutig und der Sabber lief ihnen an der Seite aus dem Maul. Ab und an schlugen sie mit ihren schlammverkrusteten Schwänzen hin und her. Dabei flogen kleine Dreckbrocken durch die Gegend. Wenn ich als Kind meine Tante besucht hatte, war da immer Ochsenschwanzsuppe aufgetischt worden.
Auf dem Wagen waren längseitig zwei Bänke montiert. Auf jeder Seite saßen sechs von uns. Wir waren so gezwungen, die ganze Zeit über die andere Reihe anzugucken, wie deren Köpfe bei jedem Schlagloch hin und her, hoch und runter schlenkerten. Ich mußte an eine aufblasbare Sexpuppe denken, die mir ein paar Kumpel vor Jahren mal zum Geburtstag geschenkt hatten. Das war der reinste Nepp gewesen: der Kopf durch einen viel zu dünnen Hals an den Körper geklebt, und wenn man die Puppe hin und her schüttelte, dann wackelte ihr Schädel, als würde er gleich abfallen.

Von den Kopfbewegungen mal abgesehen, hatten die Jungs hier im Wagen wenig mit Sexpuppen zu tun. In der Dunkelheit hatte ich sie gar nicht richtig sehen können, aber jetzt, wo wir uns gegenübersaßen und die Dämmerung langsam den Hintern hochkriegte, konnte ich sie mir besser betrachten. Außer Marlsen, der sich neben den Kutscher gepflanzt hatte, war ich der einzige Mensch auf dem Wagen.
Eigentlich bin ich kein Hänfling, mit meinen einsfünfundachzig und dem Bierbauch. Aber die anderen Jungs auf dem Wagen sahen um einiges stabiler aus als ich. Die Hälfte von ihnen trug lange Bärte. Zwerge. Ich hatte mir als Kind Zwerge immer winzig klein vorgestellt. Doch die hier waren alles andere als klein. Na gut, sicherlich reichten sie nicht weit nach oben, sie gingen mir vielleicht so bist zur Brust. Aber dafür luden sie zu den Seiten aus wie spanische Galeonen unter vollen Segeln. Ihre Oberkörper waren breiter als lang, ihre Arme glichen riesigen roten, dicken Bohnen. Der Kleinste unter ihnen wog garantiert ebenso viel wie ich. Ohne ein Gramm Fett.
Sie redeten nicht viel, und wenn, dann nur untereinander in einer Sprache, die ich nicht verstand und die vor allem aus Gurgeln und Schnalzen zu bestehen schien. Vielleicht waren es aber auch nur Verdauungsprobleme.
Dann waren da noch sechs grünhäutige Typen mit schwarzen Haaren. Sie waren nicht direkt groß. Sie waren vielmehr riesig. Lang wie Basketballspieler, Figuren durch die Bank wie Schwarzenegger. Ich schätze mal, daß jeder von denen gute hunderfünfzig Kilo auf die Waage gebracht hätte. Wieder ohne Fett.
Sie redeten nur untereinander. Wenn einer von ihnen mich anguckte, dann konnte ich in seinen Augen sehen, was er von mir hielt: Für ihn war ich ein kleiner Haufen weißhäutiger Dreck, etwas, daß er sich morgens nach dem Frühstück zwischen den Zähnen rauspulte.
So zuckelte ich in einem Ochsenwagen dahin. Allein mit elf Typen, die ihren wilden Träumen nachhingen, in welchen Opfer wie ich nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht wurden. Und unsere Köpfe schaukelten hin und her und hin und her.

Es regnete weiterhin. Der Wagen hatte kein Dach, auch keine Zeltplane oder sowas für obendrüber. Bald waren wir alle durchweicht wie Madeleines, die man in Tee tunkt. Immer, wenn der Wagen über eine besonders tiefe Rille holperte, wurde ich hochgeworfen und knallte dann mit einem nassen Squwatsch! wieder auf die Bank. Den Zwergen ging es nicht anders, aber die Grünhäutigen waren zu schwer für dieses Flummigehopse. Die Bank ächzte unter ihnen und ich wartete darauf, daß sie irgendwann brechen möge. Doch sie hielt durch.

Gegen Mittag stoppte der Wagen. Unweit des Wegs war eine Art Unterstand aus Felsgestein, der wohl häufig als Rastplatz genutzt wurde, denn es fand sich unter den überhängenden Felsen auch eine Feuerstelle. Allerdings wehte der Regen unter die Felsen und es gab kein trockenes Holz, mit dem wir ein Feuer hätten machen können. Marlsen hatte in einem Sack mehrere Dosen Erbsensuppe und einen Stapel Blechteller. Er warf uns den Sack zu und ging dann zusammen mit dem Kutscher rüber zu einem kleinen Gasthaus, das in Sichtweite vom Rastplatz stand und aus dem Schornstein dampfte. Da ich keine Lust auf kalte Erbsensuppe hatte, ging ich ihnen nach. Aber das Gasthaus hatte einen Türsteher mit Löwenmähne und Zungenpiercing, der mich nicht reinließ. Nur für zahlende Gäste...
Also ging ich zurück zu den anderen. Die hatten inzwischen die Erbsensuppe unter sich aufgeteilt. Es war eine gute Erbsensuppe, mit dicken Wurststücken drin, und sie roch verführerisch. Ich kriegte nichts ab. Während die anderen grunzend fraßen, ging ich mit knurrendem Magen rüber zu den Ochsen, nur, um irgendwas zu tun zu haben. Die Ochsen zupften ein paar Grasbüschel raus, die für sie erreichbar waren. Nicht gerade die richtige Portion für solche Fleischberge. Ihnen ging wohl was ähnliches durch die Köpfe, denn als ich einem von ihnen nahe kam, um ihn zu streicheln, versuchte der, mich zu beißen. Er war zu langsam und erwischte meine Hand nicht. Wütend stampfte und scharrte er mit den Hufen und brüllte, daß mir die Eingeweide flatterten. Wir fanden irgendwie keine gemeinsame Basis, der Ochse und ich.

Eine halbe Stunde später ging es weiter. Wir saßen wieder auf den Längsbänken und ließen unsere Köpfe wackeln. Die Grünhäutigen hatten sich anscheinend während der Pause gegen mich verbündet. Jetzt ließen sie verschiedenartigste Beleidigungen vom Stapel.
„Ey, Chinasky, du hast die häßlichste Visage, die mir je begegnet ist!“
„Hey, Weißarsch! Hamse dich in Domestos gebadet oder was?!“
„Chinasky, ich hab deine Mutter von hinten gepimpert!“
„Hey, Kleiner, ich freu mich schon auf die gemeinsamen Abende im Camp. Gibt’s da ne Liste, in die man sich eintragen muß, oder hälst du jedem deinen Arsch hin?“
Ich guckte zwischen ihnen hindurch auf die vorbeiziehende Regenlandschaft und tat, als würde mich das alles nichts angehen. Was soll's, dachte ich. Schließlich sind wir nicht auf dem Weg zu einem fröhlichen Ferienlager.

Losglück

 


Wir erinnern uns: Hank hatte den Fehler begangen, zwei hübsche Anglistikstudentinnen aus good old Europe in seine Wohnung zu lassen. Flup! – hatte er ein kleines Metalldingens im Ohr und landete im Cyberspace. Dort hatte man gerade auf einen wie ihn gewartet. Mit einer Gruppe netter Leute, die er allesamt in irgendwelchen Kneipen kennengelernt hatte, machte Hank sich auf, die Welt zu retten...
Bullshit. Wenn Hank eines nicht vorhatte, dann dies, die Welt zu retten. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben. Er hätte gern weiter gemütlich im Freundlichen Arm gesessen, dem Schwager Jaheiras seinen Weinkeller leergesoffen und der Zeit beim Verrinnen zugesehen. Man – das heißt Sally – zwang ihn eines Morgens, sich zu Fuß in Richtung Nashkell zu begeben. Frühmorgens! Zu Fuß! Er wußte weder, was dieses Nashkell war, noch wo es zu finden sei. Er glaubte, daß es keine wirklich kluge Idee sein könne, die Welt zu retten. Und in diesem seinem Glauben war er nun bestätigt worden. Man war auf einen eher schwergewichtigen Herrn Oger getroffen. Dabei hatten sich Mißverständnisse eingeschlichen, ein Wort gab das andere, irgendwie kam es schließlich zu krisenhaften Konfliktlösungsstrategien und – nun ja – Gewalt. Ähnlich, wie der große Deumel aus Baldurs Tor war dabei der große Oger umgefallen. Ratet mal, auf wen...

Den Punkt, bis zu welchem ich mich schlecht fühlte, hatte ich hinter mir. Nun fühlte ich gar nichts mehr. Ich lag so rum, schaute mir meine Hand an, die da krallenartig sich streckte, ohne daß ich sie hätte bewegen können, und dachte mir: Aha, das ist also der Tod. Vor mir flimmerten drei Schriftzüge wie aus wurstfarbenen Neonröhren: „Reload – Exit – Continue“. Was das sollte, war mir schleierhaft. Reload – ja was sollte denn erneut geladen werden? Einen Ausweg sah ich auch nicht und entschied mich, weiterzumachen. Continue. Womit machte ich weiter? Vorerst mit Herumliegen.
Auf mir lastete ein achthundert Kilo wiegender Fleischberg, der mit einem Ellbogen meine Schläfen eingedrückt hatte. Eigentlich schien das Spiel aus zu sein. Seltsamerweise kriegte ich immer noch mit, was das da draußen für ein Wetter war. Seltsamerweise ärgerte ich mich immer noch, bei so einem Wetter überhaupt auf die Straße gegangen zu sein. Allerdings hatte ich ausnahmsweise mal keinen Bierdurst.

Die anderen kamen angerannt. Vorneweg Sally, ihr auf den Fersen Babydoll Moni, Khalid und Jaheira. Nur Bayan ließ sich etwas Zeit und spazierte gemütlich hinterher.
„Oh mein Gott, er hat Hank umgebracht!“, rief Sally. „Dieses miese, dreckige Ogerschwein hat meinen Geliebten geplättet. Arrgh, das wird er bereuen, dafür mache ich ihn...“
Jaheira sah die Sache nüchterner: „Der wird nix mehr bereuen, der ist völlig hinüber. Guckt doch mal, Moni hat ihm die Zähne bis runter in den Schlund verpflanzt. Und hier: die Pfeile von Bayan stecken in seinen Augen wie Kerzen in Götterspeise!“
„Aber wir sollten Hank doch helfen. Vielleicht kann man ihn ja reanimieren?!“, fragte Moni. „Jaheira, kannst Du sowas nicht?“
Jaheira blickte skeptisch auf mich runter und murmelte: „Naja, manchmal hilft Mund-zu-Mund-Beatmumg. Aber das kam bei mir im Erste-Hilfe-Kurs noch nicht dran.“
„Dann versuche ich es eben!“
Monit beugte sich über mich und drückte mir ihre bärtigen Lippen in die Visage. Sofort schreckte sie zurück. „Der Typ stinkt aus dem Maul, das ist ja abartig! Verweste Fische sind dagegen etwas, das man sich als Parfum hinter die Ohrläppchen tupfen möchte! Wer den von Mund zu Mund beatmen will, riskiert sein eigenes Leben!“
„Ich frage mich auch, ob Mund zu Mund-Beatmung da noch viel bringen würde.“, ergänzte Jaheira „Mir sieht es so aus, als hätte er einen Schädelbasisbruch. Wie der Rest seines Körpers beschaffen ist, können wir erst in Erfahrung bringen, wenn wir den Oger von ihm runtergewälzt haben.“
„Ja, aber irgendetwas müssen wir doch mit Hank machen!“, jammerte Sally.
„Wir könnten ihn den Raben zum Fraß daliegen lassen.“, schlug Bayan vor, der inzwischen herangeschlendert war.
„D-d-d-du bi-bi-bist ein h-h-h-herzloser B-b-b-bube!“, empörte sich Khalid.
Auch Sally guckte den Drow skeptisch an. Ja, sie liebte mich eben! Ich genoß ihre Solidarität über den Tod hinaus.
„Ich wüßte da eine Möglichkeit.“, meinte Moni, „Hier in der Gegend gibt’s ein kleines Dorf und etwas östlich dieses Dorfes gibt’s einen Tempel, in welchem ein Priester arbeitet, der vor Jahren mal in einem Seminar von mir abgeschrieben hatte. Wurde strafversetzt dorthin. Von ihm könnten wir Hank wiederbeleben lassen!“
„Sowas ist machbar?!“, fragte Sally hoffnungsvoll.
„Na klar, Wiederbelebungen hat jeder niedergelassene Geistliche im Repertoire. Man zapft einfach die Essenz Gottes an und...“
„Welchen Gottes denn bitteschön?“, unterbrach Jaheira. „Soweit ich informiert wurde, gibt es überhaupt keine Götter, sondern nur die allgewaltige Mutter Natur! Deren Schwingungen man allerdings durch Interferenzmodulationen...“
„Keine Götter?!“, kreischte Moni, „Du leugnest die wahre Existenz der allerhöchsten Entitäten, du zweifelst an den ewig wahren Emanationen göttlicher Wesenheit? Schweig lieber still, wenn du nicht den Zorn der Himmelsherrscher auf uns herabbeschwören willst.“
„Shar ist keine Himmelherrscherin.“, mischte Bayan sich ein.
„Shar? SHAR?!“ Moni konnte sich kaum noch einkriegen. „Shar ist eine stinkende Pervertierung des Gedanken des Göttlichen. Wir sprechen hier von echten Göttern, solche, die da oben in den Wolken thronen und weiße Bärte tragen...“
„Schon manch einer, der Shar lästerte, hätte kurz hernach mit seinem Bart höchstens noch die eigenen Eingeweide vom Boden aufwischen können.“
„Ach ja? Da bin ich aber mal gespannt, wie es soweit kommen konnte!“
„Wenn es dich tatsächlich interessiert, kann ich’s dir demonstrieren...“

Ich lag da und hörte mir's an. „Typisch“, dachte ich. „Sobald der Lotse das sinkende Schiff verläßt, gehen die Ratten sich gegenseitig an die Kehlen.“ Oder war es der Kapitän? Oder verließen nicht zuerst die Ratten und dann der Lotse und am Ende der Kapitän das Schiff? Mein Ableben hatte mich ein wenig verwirrt.

„Hört auf zu streiten!“, rief Sally. „Mein Geliebter lieg dort unter einem Monster begraben und ihr müßt hier schon wieder eure weltanschaulichen Debatten führen?! Wenn nicht mal wir in Zeiten der Krise zusammenhalten könnnen, wie soll da dann in der großen Politik Frieden einkehren?“
„G-g-ge-n-n-n-nau!“
„Muß die Schwuchtel jetzt auch noch ihren Kommentar abgeben?“, erkundigte Bayan sich.
„Besonders du bist gemeint, Drow!“, zischte ihn Sally an. „Wenn du deinen Esprit zur Abwechslung mal darauf verwenden könntest, konkrete Problemlösungsvorschläge zu machen, statt immer nur gegen die Schwachen herumzusticheln...“
Khalid wollte eine Einwendung machen, aber Jahreira legte ihm besänftigend die Hand auf seinen Schwertarm.
„Ich sehe das so“, sagte sie, „daß Moni im Prinzip Recht hat. Wir können Hank bis zum nächsten Tempel schleppen und dort wiederbeleben lassen. Zum Glück fehlen ihm ja keine wesentlichen Körperteile und er ist nur ein wenig .. ähm... eingedellt. Ein Problem, das ich allerdings sehe...“
„Ja?!“, fragte Sally besorgt.
„Nun – diese Wiederbelebungsprozeduren kosten ein Heidengeld. Ist ja klar: Moderne Gerätemedizin und so. Und Hank hat wohl kaum eine gültige Wiederbelebungsversicherungspolice abgeschlossen, oder? Es dürfte also teuer werden, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Wie sollen wir das bezahlen?!“
„Im Angesicht des Todes denkst du an Geld?“ Sally war benommen von soviel Kaltherzigkeit.
Ich hätte gern zustimmend genickt. Yeah Baby, go for me!
“Wenn man es neutral betrachtet, dann geht es Hank tot besser als lebend.”, überlegte Jaheira laut. „Er stinkt weiter vor sich hin, aber er muß nicht mehr soviel saufen und daher hat er auch keinen Kater mehr. Zu was anderem als Trinken war er doch eh nie zu gebrauchen. Vielleicht tun wir ihm gar keinen Gefallen, wenn wir ihn wiedererwecken lassen? Wenn wir’s beim status quo beließen, würde uns das jedenfalls keine müde Mark kosten.“
„Manchmal haben auch weißhäutige Elfen ganz stimmige Ideen.“, meinte Bayan.
„Dich hat niemand gefragt!“, schnauzte Sally ihn an, „Halt doch endlich mal dein verdammtes Lästermaul! Neutral betrachten, neutral betrachten! Habt ihr sie noch alle? Das ist Hank, unser geliebter Anführer! Jawohl, grinst nicht so, vielleicht habt ihr ihn nicht geliebt, aber ich schon. Er ist unser Anführer, auch wenn er die meiste Zeit hinterhergezuckelt kam. Ohne ihn wäre unsere Party doch nie in die Gänge gekommen!“
„Da ist was dran.“, stimmte Babydoll Moni zu.
„Siehste!“, nahm Sally dankbar den Beistand an. „Also ich bin dafür, daß wir Hank in diesen Tempel schleppen und dort wiederbeleben lassen. Koste es, was es wolle!“
„Dann laßt uns neutral und demokratisch abstimmen!“, schlug Jaheira vor.
Alle waren einverstanden.
„Okay“, riß Bayan das Procedere an sich, „Wer ist dafür, daß wir Hank den weiten Weg bis nach Beregost schleppen, abwechselnd und obwohl er so fett und schwer und stinkend ist und obwohl seine Wiederbelebung uns finanziell total ruinieren wird? Der hebe jetzt bitte die Hand!“
Sallys Hand schoß empor. Auch Moni hob zögerlich die ihre.
„Gut!“, meinte Bayan. „Dann jetzt die Gegenprobe! Wer ist dagegen, daß wir uns mit dem Stinkstiefel abschleppen? Also ich auf jeden Fall!“ Er hob seine Hand.
Jaheiras Hand ging ebenfalls hoch, wenngleich mit weniger Verve. Oh Jaheira-Babe, daß unter Deinem enganliegenden Kettenhemd ein so kühles Herz schlagen könne, hätte ich nie angenommen...
„Also unentschieden.“, stellte Moni fest.
„Wieso unentschieden?!“ Bayan war perplex. „Was ist mit Khalid, wieso hat der nicht mit abgestimmt? Khalid ist Jaheiras Ehemann, daher zählt seine Stimme für die Nein-Fraktion. Also haben wir drei zu zwei gesiegt!“
„N-n-n-nein!“, protestierte Khalid, „I-i-i-ich e-e-enth-h-h-ha-halte m-m-m-mich lieber.“
„Wahlenthaltung gibt’s in solchen schwerwiegenden Fragen nicht.“, meinte Bayan.
„Warum nicht?“, wollte Moni wissen, „Wer bitteschön entscheidet das? Natürlich kann man sich der Stimme enthalten, wenn man sein Gewissen erforscht hat und zu keinem klaren Enschluß finden konnte!“
„Aber wie soll denn das nun fuktionieren?“, warf Jaheira ein, „Zwei zu zwei. Das ist eine Pattsituation. Khalid, ich will dich ja gar nicht beeinflussen, aber bist du dir deiner Enthaltung ganz sicher? Du machst uns damit sozusagen handlungsunfähig...“
Khalid nickte entschlossen.
„Ja – und nun?!“, wollte Moni wissen.
„Das Los muß entscheiden!“, meinte Bayan. „Ich habe hier in meiner Hand zwei Strohalme, einen hellen Langen und einen dunklen Kurzen. Hier, Jaheira, zieh einen! Wenn du den Kurzen ziehst, lassen wir Hank hier, wenn einen Langen, dann...“
„Hältst du uns für Trottel?“, kreischte Sally. „Deine Tricks sind derartig durchschaubar...! Nun gut, laßt das Los entscheiden. Aber auf eine faire Weise. Hier, Khalid, nimm diese Münze und wirf sie in die Luft! Wenn nachher die Zahl oben liegt, lassen wir Hank liegen, wenn der Kopf oben ist, nehmen wir ihn mit. Alle einverstanden?“ Sie blickte streitlustig in die Runde. Aber niemand hatte Einwände. Ich hätte mich gern geäußert, aber mich fragte keiner.
Khalid nahm die Münze und schnippte sie in die Luft. Plirrend fiel sie zu Boden und kullerte und kullerte und kullerte.... Und blieb endlich liegen. Auf dem Rand. AUF DEM RAND!!! Meine Mitstreiter guckten blöd. Auch die Münze konnte sich nicht entscheiden! Sie stand da, vibrierend, aber aufrecht, wenige Handbreit vor meiner Nase. Ich konnte dem eingeprägten Kopf sozusagen in die Augen schauen. Sie stand da und konnte sich nicht für eine Seite entscheiden. Auch der Münze war mein Schicksal völlig schnuppe. Es war so frustrierend! Selbst meinem toten Körper war das zuviel. Entmutig ließ er einen letzten gewaltigen Furz fahren. Das schreckte eine Fliege auf, die auf meinem Hinterteil herumgekrabbelt war. Sie surrte aufgeregt im Kreis herum und entschied sich dann für einen anderen Landeplatz: Die Münze. Ich konnte es vor mir sehen. Diese Fliege balancierte frivol auf der Münze herum, welche mein Leben bedeutete. Mit drei Beinen hielt sie sich an der Kopfseite fest, mit dreien an der Zahlseite. Immer noch unentschieden... Doch dann – dann fiel es ihr ein, sich zu kratzen. Sie nahm ein Hinterbein hoch, um sich damit unterm Flügel zu jucken. Es war das Bein auf meiner Seite. Die Zahlseite kriegte ein minimales Übergewicht. Die Münze kam ins Wanken. Die Fliege war irritiert. Sie wollte sich abstoßen. Doch zu spät! Krachend, in majestätischer Zeitlupe, fiel die Münze um.
Klimp...

***

Ich saß draussen auf einem Wollmantel, den ich über dem sommertrockenen Gras ausgebreitet hatte. Mit dem Rücken an die von der Sonne erwärmte Tempelmauer gelehnt , blinzelte ich in die ockerweißen Wolken empor. Daran mußte ich mich erst wieder gewöhnen: Sitzen, lehnen, blinzeln, atmen. Es fühlte sich gut an. Es war sagenhaft. Lebendig an einer warmen Tempelmauer sitzen. Es gab nix besseres! Naja... ein kühles Bier hätte die Sache vielleicht abgerundet.
Um die Ecke hörte ich Schritte, leichte, weibliche Schritte. Es war Sally. Sie kam rüber und setzte sich zu mir ins Gras. Sie legte ihre Hand in die meine. Gemeinsam blinzelten wir hoch zu den Wolken, deren Ockerweiß immer goldener wurde. Bald würde es dunkeln. Alles war gut.
„Du, Hank?“
„Yeah Baby?“
„Es ist schön, dich wieder am Leben zu sehen.“
„Keine Einwände meinerseits.“
„Es war ein ziemlicher Akt, dich hierher zu schleppen, weißt du?!“
„Hhmm...“
„Bayan und Jaheira, sie waren ja nicht ausgesprochen dafür, dich hier in den Tempel zu schaffen...“
„Nicht dafür, Baby? Die wollten mich den Raben zum Fraß überlassen.“
„Naja, aber sie haben schließlich den Losentscheid akzeptiert, das mußt du zugeben.“
„Hhmmm....“
„Und sie haben beim Tragen geholfen.“
„Hhmmm...“
„Ich meine – naja, man kann sie doch verstehen. Jaheira hatte ja auch recht, es war eine verdammt teure Angelegenheit, weißt du?“
„Baby, ich hab das Gefühl, als wolltest du mir was verklickern, und kämest nicht so recht raus mit der Sprache.“
„Naja, weißt du – es war teuer und so und wir mußten alle diese Schuldscheine unterschreiben beim Priester. Wo drin steht, daß wir, wenn wir das Gold nicht innerhalb eines Jahres mit den 37,5% Zinsen zurückzahlen, jeder drei Pfund Fleisch aus seinem eigenen Körper zu schneiden und damit zu zahlen haben.“
„37,5%? Das ist Wucher! Und warum gleich drei Pfund? Ich meine, ein Pfund hätte früher locker ausgereicht. Verdammte Inflation, die Preise fliegen über den Markt!“
„Hank, es geht darum, daß wir momentan keinen roten Heller mehr haben. Ob 37 oder 10 Prozent, das ist da relativ egal. Wir müssen Gold auftreiben und zwar schnell, so ein Jahr ist rum wie nix.“
„Wieviel?“
„Ich hab den Preis auf 3000 Goldstücke runterdrücken können.“
„Wie – runterdrücken...?“
„Naja, du weißt schon...“
„Baby, ich will nicht, daß du fremden Priestern deinen Prachthintern hinhältst, nur, um ein paar Prozente rauszuschlagen!“
„Was hätte ich ihm denn sonst hinhalten sollen? Meinst du, er hätte deinen Arsch akzeptiert? Mit all den Haaren dran?“
„Naja, ich weiß nicht. Das geht irgendwie gegen meine Ehre.“
„Gegen DEINE Ehre?!! Wenn ich meinen Podex... Und was ist mit meiner Ehre?“
„Für dich ist das ein normaler Job.“
„Hank, ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, dich wiederzuerwecken.“
„Allright, entschuldige bitte! Aber was genau willst du jetzt von mir?“
„Wir müssen Gold auftreiben. Und das können wir nicht allein. Dazu brauchen wir die Hilfe von Freunden...“
„... solchen Freunden wie diesem blonden Nigger, oder was?!“
„In der Stunde der Not kann man sich seine Freunde nicht aussuchen.“
„Woher kommt nur mein Gefühl, als würdest du manche deiner Sätze aus irgendwelchen Groschenromanen borgen?“
„Hank, lenk nicht vom Thema ab!“
„Schon gut, schon gut. Brauchst dich nicht zu sorgen. Bayan ist ein Drecksloch, aber mit Dreckslöchern hab ich Erfahrung. Kein Problem.“
„Und was Jaheira angeht...“
„Die ist eine verfickte Kettenhemdschlampe, aber egal. Man kann nicht beides haben, solche phänomenalen Titten und Moral...“
„Hank!!!“
„Naja, Baby, Ausnahmen wie du bestätigen die Regel.“
„Findest du meine Titten wirklich phänomenal?“
„Das weißt du doch...“
„Beweise es mir!“
„Sally, deine Titten sind der Hammer. Ungelogen! Großes Trinkerehrenwort! Aber weißt du – naja, bis eben war ich noch tot. Ich bring’s momentan einfach nicht, dafür wirst du doch wohl Verständnis haben, oder? Ich meine – naja, warum gucken wir uns nicht einfach erst mal diesen verflucht schönen Sonnenuntergang an?! Wenn man eine Weile weg war vom Fenster, dann lernt man, auch an den kleinen Dingen Gefallen zu finden.“
„Hank, kann es sein, das mit deiner Potenz was nicht in Ordnung ist?“
„Du bist zu fleischlich fixiert, Sally. Potenz ist nicht alles...“
„Potenz ist alles! Potenz – potentia – die Möglichkeit, die Kraft, die Fähigkeit! Das ist alles! Was soll da sonst noch sein, wenn es nicht mal mehr die Kraft und die Möglichkeit gibt und all dieses Zeug?“
„Herrgottnochmal, ich bin ganz einfach müde, okay? Sowas schlaucht, diese Wiedererweckung und der ganze Kram. Das steckt man nicht einfach so weg! Ich bin ja nicht mehr der Jüngste. Klar, früher, da gab’s für mich gar keinen Kater, aber heute ist das anders...“
„Oh Mann, jetzt komm mir nicht wieder mit deinen Heldentaten von früher! Früher war Hank der Größte, früher hatte Hank den Längsten, Härtesten, Größten, früher war Hank der Hengst des ganzen Viertels, früher... Immer wenn du so redest, dann kommt es mir vor, als würde ich meinen Großvater hören. Zahnlos vorm Küchenofen sitzt er und nuschelt von seinen Kriegserlebnissen rum. Früher war früher. Jetzt ist jetzt. Also – was ist jetzt?“
„Ich hab Migräne...“
„Verflucht nochmal, was soll das jetzt? Ich habe dem Priester meinen Allerwertesten hingehalten – und jetzt soll das umsonst gewesen sein? Wozu haben wir dich denn wiedererwecken lassen, wenn du ihn jetzt nicht mal mehr hochkriegst? Kopfschmerzen! Daß ich nicht lache! Was ist los mit dir? Wechseljahre? Eisprung?“
„Sally, kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Du tust mir ja auch keinen!“
„Sally, laß es uns auf später verschieben. Morgen oder so. Wenn ich wieder etwas fitter bin. Jetzt bin ich nicht in Stimmung. Du hast phänomenale Möpse, da ist gar nix zu diskutieren, dazu steh ich, die Dinger sind unerreichbar, dagegen verblassen die von Jaheira wie ein Eis in der Sonne...“
Jaheira, Jaheira, Jaheira!!! Ich glaube, du hast die ganze Zeit nur dieses Flittchen im Kopf. Willst dir den Saft für sie aufsparen, wie?“
„Och Mönsch, Sally, nun sei doch mal entspannt! Du hattest sie doch ins Gespräch gebracht! Du wolltest doch, daß ich ihr verzeihe...“
„Naja, schon, aber...“
„Siehste! Komm, wir vertragen uns und gucken uns diesen Sonnenuntergang an.“
„Na gut.“
„Es ist ein unglaublich rotgoldener Sonnenuntergang.“
„Wenn du meinst...“
„Wie diese rote Kugel da majestätisch hinter den Gräsern wegsinkt!“
„Jaja...“
„Und hörst du? Die Vögel, sie verstummen. Die gehen alle pofen.“
„Hank?“
„Yeah, Baby?“
„Eis schmilzt in der Sonne, es verblaßt nicht.“
„Naja, dann schmilzt es eben.“
„Aber wie können Jaheiras Titten denn schmelzen?“
„Sowas nennt man poetische Freiheit.“
„Ach so.“
„Sally, du bist ein Schatz.“
„Hhmmm...“
Sie kuschelte sich an mich und während die Sonne sich verkrümelte, dämmerte auch meine Sally langsam weg. Bald schlief sie fest, ihren süßen Mund ein wenig geöffnet, und schnarchte ganz leise und fein. Passend zum Zirpen der Grillen. Es war eine sehr, sehr laue Nacht. Während die Dunkelheit schon länger hereingebrochen war, strahlte die Tempelmauer immer noch Wärme aus. Manchmal paßt alles zusammen. Manchmal gibt es goldene Stunden im Leben. Mit Frieden und Geborgenheit und all dem Zeug, was sonst noch dazugehört. Sternschnuppen am Firmament, der Gesang einer Nachtigall und ein runder, weicher Frauenarsch, an den man sich schmiegen kann. Es sind diese Momente, deretwegen sich das Leben lohnt. Man schwebt so in seiner Existenz, schwerelos, ohne Anstrengung, es ist alles gut in den goldenen Stunden.
Leider sind sie selten.

Ich wachte auf, weil Sally sich im Schlaf rumgedreht hatte. Dadurch rutschte ich zur Seite weg, mein Kopf schrappte an der Tempelmauer entlang, ich riß mir das halbe Ohr ab und landete mit der Schnauze im taunassen Gras. Sally schien irgendwas Komisches zu träumen, sie murmelte und wimmerte im Schlaf. Irgendwie hatte sie es geschafft, den Mantel, auf welchem wir gesessen hatten, um sich herumzuwickeln. So lag sie da friedlich, warm eingemümmelt, und redete in ihren kleinen Mädchenträumen. Ich saß mit einem vom Tau durchnäßten Hosenboden da, mein Ohr blutete vor sich hin und es war inzwischen saukalt. Wie spät mochte es sein? Ich guckte hoch zu den Sternen. Keine Ahnung, wie man von denen die Uhrzeit ablesen konnte. Ich wußte ja nicht mal, ob die sich nun rechts- oder linksrum drehten. Es war ganz einfach mitten in der Nacht, das mußte mir reichen. Ich stand auf, ging ein paar Meter in die Dunkelheit hinein und shiffte ins Gras. Und jetzt? Was lag an?

Vielleicht hatte der Priester von diesem komischen Tempel noch ein Zimmer mit Bett frei. Zumindest eine Mönchszelle oder etwas in der Art. Leider waren die Tempeltüren verschlossen, ich latschte einmal ums ganze Gebäude und da war nicht mal irgendwo ein Fenster offen. Na fein! Ich hörte ein klagendes Rufen.
„Hank? Hank, wo bist du?!“
„Hier, Baby.“
„Ach da...“ Sally schien von ihren Träumen geweckt worden zu sein. Sie kam rüber zu mir, ich erkannte ihre Silhouette im Mondlicht. Sie schleifte etwas hinter sich her. Den Wollmantel. So konnte er sich schön mit dem kalten Tau vollsaugen.
„Hör mal Hank, ich glaube, ich hab eben ein komisches Heulen gehört, du nicht auch?“
„Ich dachte, das wärest du gewesen.“
„Nö, ich heule doch nicht. Für mich hörte sich das wie das Heulen eines Hundes an. Oder eines Wolfes oder so.“
„Mensch, jetzt hör auf, einem alten Mann Angst einzujagen! Erzähl lieber mal, wo die anderen abgeblieben sind.“
„Siehste, das wollte ich dir ja vorhin schon erzählen: Die sind in das Nachbardorf gegangen, um sich mal etwas umzuschauen.“
„Das ist jetzt aber schon ne Weile her, oder?“
„Naja...“
„Was machen wir jetzt? Ich friere mir hier so langsam den Arsch ab.“
„Wie wäre es mit einem romantischen Mondspaziergang?“
Frauen, die in fünfeckigen Räumen zu hausen pflegen, haben manchmal so abgedrehte Ideen. Romantischer Mondspaziergang! Ich rüttelte lieber etwas an den Fensterverschlägen des Tempels. Erfolglos. Schon wieder heulte es in der Nähe. Verdammt nah in der Nähe. Hinter uns, im Dunkeln. Ich drehte mich zu dem Heulen um. Da war nichts, nur Finsternis, aufgelockert von ein paar Schatten. Doch, da war noch was. Ein Schnüffeln.
„Sally, hast du eben geschnüffelt?“
„Das gleiche wollte ich eigentlich dich fragen, Hank!“
Etwas raschelte da im Dunkeln. Und tapste. Und schnüffelte. Und leuchtete. Leuchtete? Ja, doch, da waren einige fahlgelbe Lichtpunkte in der Dunkelheit. Zwei. Vier. Acht...
„Sally, weißt du, was eine Räuberleiter ist?“
„Zeig es mir bitte ganz, ganz schnell! ...“
Ich zeigte es ihr. Sie lernte rasch. Der Tempel hatte ein Flachdach. Ich wuchtete meine neunzig Kilo da hoch. Sie warf mir den nassen Mantel hinterher. Ich hielt ihn von oben so runter, daß sie sich daran emporziehen konnte. Es krachte verdächtig in den Nähten, aber er hielt. Er hätte auch nicht reißen dürfen. Denn noch im letzten Moment blitzten im Mondlicht plötzlich eine Reihe langer, spitzer, weißer Zähne auf und schnappten nach Sallys linkem Fuß, den sie zu spät hochzog.
„AAAAARRRRGHHH!!“, schrie sie, „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt...“
„Baby, was ist?! Oh mein Gott, zeig her, wir können die Blutung vielleicht irgendwie stoppen...“
„Welche Blutung, zum Henker? Argh, dieses Mistvieh, dieses zottelige Monster, dieser stinkende Sohn einer Hündin! Hier, siehst du, Hank? Hier, schau, was er mir angetan hat!“
Ich schaute mir ihren Fuß an. Er war hübsch, dieser Fuß, schlank an der Fessel, weich und bleich schimmernd im Mondlicht. Ich konnte keinen Kratzer entdecken.
„Baby, ich kann keinen Kratzer entdecken!“
„Ja, Herrimhimmel, und warum wohl? Weil er weg ist!“
„Sally, da ist noch alles, wie es sein sollte, da fehlt nichts!“
„TYPISCH MANN!!!“
Und dan sah ich es. An ihrem rechten Fuß. Einen Schuh. Einen hübschen blauen Schuh aus Kalbsleder. So mit recht hohem Absatz dran. Passend zu ihrem Kleid. Freilich, eine Katastrophe. Nicht nur, daß dort unten, kaum drei Meter tief, sich eine Vollversammlung sämtlicher Wölfe der Schwertküste eingefunden hatte, die beratschlagten, mit welcher Soße sie uns verspeisen sollten – nein, Sally hatte auch noch ihren Lieblingsschuh eingebüßt, den ihr mal einer ihrer Freier aus den guten alten Kerzenburgzeiten geschenkt hatte. DAS waren echte Probleme.

Ich wrang den Mantel aus, setzte mich drauf, popelte in der Nase und versuchte, die Ergebnisse dieser Bohrübungen in eines der gelben Augen zu schnippen, die drunten gierig emporstarrten und über das System der Räuberleiter sinnierten. Sally schimpfte und kreischte noch ein Weilchen, dann setzte sie sich neben mich. Es war kalt. Wir warteten.