Samstag, November 08, 2014

Traum von Vanillepudding



Irgendwann hatte ich die Schnauze voll, packte meine Siebensachen und zog bei Sally aus.
Doch erst viel später.

Zuerst fing es ganz nett an in Beregost. Nach einer romantisch durchwachten Nacht auf dem Flachdach des Beregoster Tempels hatten uns morgens die anderen aus der Gruppe befreit, indem sie die Wölfe vertrieben. Khalid behauptete, sein sch-sch-scharfes Sch-sch-Schwert habe ihnen Angst eingejagt, Jaheira meinte, sie habe sich auf der nur ihr eigenen Druiden-Ebene mit dem Rudelführer verständigt. Wahrscheinlich aber waren die Viecher vor dem neuen Parfum geflohen, daß Babydoll Moni bei einem schwulen Friseur namens Garrick erstanden hatte. Wie auch immer – nach überstandenem Schrecken fiel Sally und mir auf, daß einer fehlte: Bayan.
Nicht, daß ich darüber besonders traurig gewesen wäre, genaugenommen fiel es mir eher positiv auf. Die anderen berichteten, daß Bayan von der örtlichen Wache wegen Terrorismus-Verdachtes festgenommen worden sei.
„Man hat ihn nach Baldurs Tor verschleppt!“, jammerte Moni. „Dort sitzt er jetzt im Kerker. Im Hochsicherheitstrakt! Der arme Kerl. Er muß jetzt jede Nacht Angst haben, von irgendwelchen Mitgefangenen vergewaltigt zu werden...“
„Da sollte man eher Mitleid mit den anderen Gefangenen haben...“, wendete ich ein.
„Wie auch immer“, sagte Jaheira, „Der Leiter des Hochsicherheitstraktes ist ein echt harter Knochen, von dem hab ich schon gehört. Angelo Giuliani oder so ähnlich... Aus diesem Kerker kommt kaum jemand lebend wieder raus, und wenn, dann als gebrochene Persönlichkeit.“
„Klingt nach ner Einrichtung, die sich um das Allgemeinwohl verdient macht!“, überlegte ich.
Sally sah mich streng von der Seite an.
„Wir müssen ihn da wieder rausholen!“, sagte sie.
„Rausholen?!“, wollte ich wissen. „Aus einem Hochsicherheitstrakt? Wie denn das? Na klar, man kann so ein Gefängnis einfach plattwalzen... Ich hole schon mal den Bulldozer. Wo hatten wir den noch gleich geparkt?“
„Nein, nicht so.“, sagte Sally. „Wir ziehen vor Gericht. Das geht doch nicht, daß sie einfach so Bayan einsperren, ganz ohne Grund...“
„Naja“, gab Jaheira zu bedenken, „Einen Grund haben sie schon: er ist nun mal ein Drow. Seit dem Attentat auf den großen Deumel haben Drow es hierzulande nicht leicht. Es gibt inzwischen Sondergesetze, die erlauben, einen verdächtigen Drow solange ohne Haftbefehl festzuhalten, bis seine Schuld bewiesen ist.“
„Und wenn er unschuldig ist?“, wollte Sally wissen.
„Dann dauert’s natürlich ein bißchen länger.“
„Sehr weise Gesetzgebung!“, befand ich.
„Das ist empörende, brutalste Verletzung sämtlicher Zwergenrechtsstandards!“, ereiferte sich Babydoll Moni. „Sie werden ihn foltern da drinnen, ich weiß das! Erniedrigen und bestehlen werden sie ihn! Man wird ihm seine kärglichen Nahrungsrationen abnehmen und ihn zwingen, die Latrinen mit der Zahnbürste zu säubern. Zu viert werden ihn seine Mithäftlinge festhalten und der fünfte wird ihm ganz langsam und fies den Zeigefinger hinten reindrehen und nach dem Zeigefinger nehmen sie...“
„Wir haben so ungefähr verstanden, worauf du hinauswillst!“, unterbrach Sally sie. „Also nochmal: Da sitzt ein Unschuldiger im Gefängnis und man kann nichts dagegen tun?“
„Doch, schon.“, sagte Jaheira. „Wie in allen Rechtstaaten kann man die Verantwortlichen bestechen. Zehntausend Piepen cash dem Angelo in die Hand – und schon ist Bayan wieder frei.“
„Soviel haben wir nicht“, gab ich freudig zu bedenken. „Im Gegenteil: Wir haben sogar noch Schulden bei diesem Drecksloch von einem Priester im Tempel.“
„Und woher kommt das?“, wollte Jaheira wissen und zog dabei ihre Augenbrauen auf so eine bestimmte, schnippische Art hoch.
„Genau, woher kommt das!“, stimmte Sally zu. „Nicht nur die dreitausend Goldstücke mußten wir aufbringen, ich durfte sogar noch meinen hübschen Knackarsch hinhalten...“
Alle sahen sie mich vorwurfsvoll an, Khalid eingeschlossen. Beim vorwurfsvollen Gucken stotterte er nicht...
„Also jetzt macht mal halblang!“, verteidigte ich mich, „Ich habe nicht darum gebeten, wiedererweckt zu werden. Man hat mich nicht gefragt! Noch nie! Schon meine Mutter hat mich nicht um meine Meinung gebeten, als ich geboren wurde. So ging das immer weiter! Ich schulde niemandem was, ich bin zu nichts verpflichtet, ich habe nichts unterschrieben...“
Die Vier guckten mich immer noch vorwurfsvoll an. Mit fragendem Unterton in den gerunzelten Augenbrauen. Langsam rann mir der Schamschweiß den Rücken runter. Schließlich meinte Sally ganz ruhig: „Na gut, das wäre also geklärt. Wir sollten uns jetzt überlegen, wie wir die zehntausend Piepen für Bayan zusammenbekommen.“
„Wir könnten Straßenmusik machen!“, schlug Moni vor. „Im Priesterseminar habe ich jede Menge Lieder gelernt. Die bringe ich euch bei, wir singen dann so schöne barocke Chöre...“
„ ... und Khalid improvisiert in den oberen Stimmlagen ein wenig“, ergänzte ich.
„Hank hat heute seinen verbindlichen Tag“, sagte Sally. „Und nun möchte er etwas Konstruktives vorschlagen, nicht wahr, mein Schatzzz?“ In ihrem Schatzzz steckte ein ganzer Beutel voller zerstoßener Flaschen, so klirrte sie.

Also suchten wir uns Jobs, die vier Frauen und ich. Khalid heuerte als Reinigungsfachkraft in einer kleinen Kneipe an. Er kratze allmorgendlich die Kacke von den WC-Rändern, fegte die Glasscherben im Schankraum zusammen und spülte die Kotze vor der Eingangstür in den nächsten Gully. Alle vierzehn Tage hatte er einen Nachmittag frei.

Jaheira wurde Unternehmerin. Sie zog zuerst mit einem Bauchladen durch die Gegend, aus dem sie Hustenbonbons, Schnürsenkel und selbstgemixte Teemischungen unter die Leute brachte. Das Geschäft ging gut, bald eröffnete sie einen kleinen Ökoladen mit fair gehandeltem Fischbein aus Zehnstädte, garantiert nebenwirkungsfreien Schönheitscremes aus Aloe-Balsam und unter der Theke angebotenem Dope aus Amn. Dafür bestand Nachfrage, es wurden Pläne zur Expansion durch Filialen in allen wichtigen Städten an der Schwertküste geschmiedet. Man munkelte, Jaheira-Markets würden demnächst an die Börse gehen...

Moni rannte mit schwarzem Spitzenhäubchen und einer Spendenbüchse durch die Gegend, erzählte den Menschen spirituellen Unsinn und verkaufte ihnen selbstgeschriebene Traktate über den Untergang der Welt und die Unterdrückung bärtiger Frauen. Ihr Geschäft lief nicht so gut.

Sally ging wieder ihrer alten Arbeit nach. Entweder, sie nahm sich anscheinend herrenloser Geldbörsen an, oder, da sich derartige Gelegenheiten rar machten, sie hielt ihren kleinen Knackarsch dem Meistbietenden zu temporärer Verfügung hin. Das paßte mir nicht wirklich, das ging gegen meine Ehre. Aber irgendwer mußte ja die Miete zahlen...

Nun gut, ich versuchte, mein Teil dazu beizusteuern. Aber es war nicht so einfach für mich, einen Job zu finden. Ab und an fand sich eine Aufhilfsstelle als Packer, wenn ein ortsansässiger Händler mal eine größere Ladung aus Baldurs Tor oder Tiefwasser geliefert bekam. Aber für so einen Vormittags-Job gab’s natürlich nur Kleingeld. Gerade genug, um sich einen Abend richtig volllaufen zu lassen. Echte Perspektiven eröffneten sich dadurch nicht.
Genaugenommen hatte niemand auf einen wie mich gewartet. Es bestand kein Bedarf an alternden Trinkern mit metertiefen Akne-Narben im Gesicht. Der Arbeitsmarkt in Beregost war wie leergefegt. Wochenlang ergab sich gar nichts. Ich lungerte in der anderthalb-Zimmer-Bude, die Sally für uns beide angemietet hatte, herum, starrte depressiv vor mich hin und trank, was sie von ihren Freiern mit nachhause brachte.
Natürlich fing sie bald an zu meckern. Hank, du solltest dich mal rasieren, Hank, mit so einer Fahne gibt dir kein Personalschef auch nur die Hand, Hank, furz nicht dieses kleine Zimmer voll, schließlich geht das Fenster nicht auf, Hank, du strengst dich einfach nicht genug an... Hank dieses und Hank jenes. Es war keine harmonische Zeit.
Eines Tages hatte Sally großartige Nachrichten für mich. Einer ihrer „Freunde“ sei ein Edelmann, der ein großes Stück Wald etwas weiter nördlich besitze. Dort würden noch Waldarbeiter gebraucht.
„Hey Hank!“, meinte sie, „Das ist genau das Richtige für dich! Einfache, ehrliche Arbeit bei viel frischer Luft. Du bewegst dich mal ein bißchen, und bezahlt wird gut. Dreimal soviel, wie Khalid bei seinem Job verdient. Stell dir das mal vor! Da gibt’s nicht mal irgendwelche Ausbildungsvoraussetzungen. Alles, was zu tun ist, bringen sie dir da bei! Und wenn bestimmte Leistungen erreicht werden, gibt’s Bonuszahlungen. Mensch, da kannst du richtig reich werden!“ Ich war skeptisch, aber nicht in der Position, das Angebot abzulehnen.

Das Holzfällerlager, wo ich meinen neuen Job anfangen sollte, lag ein ganzes Stück weiter nördlich als Beregost. Es lag so weit entfernt, daß ich die Hoffnung, abends nach der Arbeit heim zu Sally zu fahren, gleich begraben konnte. Das sagte mir der Typ, der hier in Beregost die Leute anwarb.
Er saß in einem winzigen Büro. Das Büro war wohl nur für diesen einen Tag angemietet. Es stand darin ein Bürosessel mit Lehne und davor ein Schreibtisch. Links an der Wand hing ein Bild mit einer großen, roten Ameise drauf. Die Ameise balancierte einen gelben Helm zwischen ihren Fühlern und trug eine Säge in der Hand. Das war natürlich Blödsinn, weil Ameisen ja eigentlich gar keine Hand haben. Diese hatte sogar mehrere. Mit einer anderen Hand, die sie zur Faust geballt hatte, grüßte sie kernig aus dem Bild heraus. In einem Bogen über der Ameise stand in Goldbuchstaben: DIE WALDAMEISE – DEINE HILFE UND DEIN VORBILD!
Unten drunter war der Name des Unternehmens gedruckt: „Spider-Forest Wood-works inc.“
Ich kam also in das Büro mit der kernigen Ameise und baute mich vor dem Schreibtisch auf. Da war kein Stuhl oder sowas. Man mußte stehen. Der Typ auf dem Bürosessel hinter dem Schreibtisch hieß Marlsen. Stand auf einem Schild, das er sich ans Hemd geheftet hatte. Marlsen war klein und wirkte ziemlich zäh. Seine eine Hand fuhr beim Sprechen immer wie ein Besen über dem Tisch hin und her. Er hatte kurze Haare und seine Augen waren stumpf, aber aufmerksam.
„Chinasky“, begrüßte er mich, „Chinasky – Sie suchen einen Job, wir können Ihnen einen solchen anbieten.“ Er schaute mich mit einem spitzen Grinsen an, als erwarte er, daß ich darauf was Kluges antwortete. Eine Ratte. Eine smarte Karrierenratte.
„Mister Marlsen, das hört sich gut an.“, sagte ich. „Ich nehm den Job.“
Er lachte. Es klang wie der Balzgesang eines asthmatischen Gürteltiers.
Oho, Chinasky, oho! Einer von der schnellen Sorte, wie? Die Frage ist doch: passen Sie zu uns? Wie sieht Ihre Arbeitseinstellung aus? Ha’m Sie schon mal als Waldarbeiter rangeklotzt? Buchen gepflanzt, Krüppelholz gerodet, Fichten entastet?“
Ich hatte noch nie etwas mit Bäumen anfangen können. Pflanzen waren nicht mein Ding, nicht mal mit Gänseblümchen hatte ich bislang warm werden können.
„Ja, Mister Marlsen, ich hab schon in diversen Forsten gearbeitet. Entasten, Pflanzen, Roden – das volle Programm. Ich mag die Arbeit. Die frische Luft und so. Daß man was mitkriegt von dem Wetter und den Jahreszeiten. Die herzhafte Art der Kommunikation unter den Arbeitern. Nicht lange rumreden, anpacken. Daß man abends merkt, was man getan hat. Unser Herrgott hat damals schon dem Adam gesagt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verzehren...“
„Genug, genug! Ich sehe, Sie passen genau in unser Team. Morgen um halb fünf geht der Ochsenkarren hier auf dem Marktplatz ab. Er wird Sie und Ihre neuen Kollegen in unser Arbeitercamp im Spider Forest bringen. Seien Sie pünktlich, wir wollen nicht erst nach Sonnenaufgang aufbrechen, sonst müssen wir unterwegs übernachten und ein Arbeitstag ist verloren.“
Kurz war ich geschockt. Die Ratte meinte halb fünf Uhr morgens! Aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Ich werde da sein, Mister Marlsen, kein Problem. Wegen der Bezahlung...“
„Ah ja, ah ja, die Bezahlung. Klar, Chinasky, gut, daß Sie fragen. Also Sie haben schon in anderen Forsten gearbeitet – dürfte ich bitte Ihre Beurteilungsschreiben aus diesen Arbeitsverhältnissen sehen?“
„Sowas hab ich nicht. Da, wo ich gearbeitet habe, legte man keinen Wert auf Papierkram. Wir haben malocht, abends gab’s den Lohn bar auf die Kralle...“
„Nun, Mister Chinasky, das läuft bei uns etwas anders. Es muß alles seine Ordnung haben bei uns, die Bücher müssen stimmen. Wir können nur ausgewiesenen Fachkräften den vollen Lohn zahlen. Wer nicht belegen kann, daß er die Arbeit schon aus dem Effeff beherrscht, muß zunächst mit Abschlägen rechnen, solange, bis sein Vorarbeiter ihn höher einstuft. Also fangen Sie mit einem niedrigeren Grundgehalt an. Wir zahlen Ihnen erstmal vierzehn Kupferpfennige die Woche, also zwei Pfennig pro Tag. Macht nach weniger als zwei Monaten schon einen Goldtaler! Da sind die Boni für Plansollübererfüllung noch gar nicht mal eingerechnet. Und wenn der Vorarbeiter Ihnen bescheinigt, daß Sie gut und professionell arbeiten, erhöht sich der Lohn auf dreieinhalb Pfennige pro Tag!“
„Mister Marlsen, ich hatte mit mindestens vier Pfennigen pro Tag gerechnet. Man muß doch auch irgendwovon leben!“
„Wir haben im Camp einen Händler, bei dem Sie alle Artikel des täglichen Gebrauchs günstig erstehen können, günstiger als hier in Beregost! Sie können sogar bei ihm anschreiben lassen.“
„Ja gut, aber zwei Pfennig pro Tag...“
„Chinasky, wir haben allerhand andere Bewerber für den Job. Wolln sie ihn oder was?!“
„Ja, sicher...“
„Na dann ist ja alles in bester Ordnung. Wir sehen uns morgen früh. Ach ja: Arbeitskleidung nicht vergessen!“
Damit war ich draussen.

In der Nacht träumte ich von Heerscharen behelmter Ameisen, die um einen großen Vanille-Pudding rumliefen und mit Kettensägen versuchten, Stücke davon herauszutrennen. Sie machten einen Höllenlärm mit diesen Dingern, sie fuchtelten wie wild damit herum und stachen von oben in den Pudding rein. Aber immer, wenn sie unten mit der Säge ankamen, hatte sich oben die glibberige Masse schon wieder geschlossen. Statt sich darüber zu ärgern, fingen die Ameisen wieder oben an zu sägen. Es war ein Bild der Sinnlosigkeit. Dabei sangen sie fröhlich. Ich stand mitten auf diesem klebrigen Puddig und versuchte, ein paar Gänseblümchen, die ich gepflanzt hatte, durch Streicheln dazu zu bewegen, ihre Wurzeln in diesen wabbeligen Pudding reinzustecken. Sie zierten sich, mochten wohl keine Vanille. Es war aber nun mal mein Job, diese Gänseblümchen da anzupflanzen, es war Akkordarbeit, wenn ich das verfickte Grünzeug nicht zum Wachsen brachte, gab’s kein Geld. „Ihr dreckigen, miesen, hinterhältigen Blütenköppe, jetzt habt euch nicht so, wachst endlich, verdammichnochmal!“ brülle ich sie an. Aber die Gänseblümchen wußten, daß sie am längeren Hebel saßen und kicherten nur so vor sich hin. Ich kriegte einen Riesenhaß auf alles, was Chlorophyll in seinen Blättern trug. Vor Wut stampfte ich mit dem Fuß auf. Dabei druchbrach ich die dünne Haut des Puddings und sank mit dem Fuß bis zum Knie im Vanillematsch ein. Als ich das Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte, um mich wieder rauszuziehen, riß auch unter dem die Haut, und bald steckte ich bis zur Hüfte im Glibber. Ich kriegte die Panik, ich wußte, ich würde in Vanillesoße untergehen und ersaufen, ich schrie um Hilfe, aber niemand achtete darauf. Unten, am Fuß des Riesenpuddings, marschierten immer noch die Sicherheitshelmameisen im Kreis und sangen Arbeiterlieder...

Schweißgebadet erwachte ich. Es war stockdunkel, aber Sally rüttelte mich. Sie roch nach Vanille. Im ersten Moment dachte ich, sie wolle ficken.
„Oh Baby, nicht mitten in der Nacht! Wie kann man es so nötig haben?“, stöhnte ich.
„Es ist kurz nach vier, Hank! Pack Deine Sachen! Du mußt los, sonst fährt der Holzfällerwagen ohne dich ab.“

Eine knappe halbe Stunde später stand ich auf dem Marktplatz, wo sich schon die anderen neuen Arbeiter versammelt hatten. Es war noch stockfinster. Es regnete. Es war kalt wie das Lächeln des Sensenmannes und ich hatte einen Kater. Man hätte meinen können, es werde bestimmt nicht noch schlimmer.

Wir waren insgesamt zwölf Männer plus Marlsen und der Fahrer des Wagens. Es handelte sich um einen ziemlich großen Lastkarren mit vier riesigen Holzrädern und zwei Ochsen davor. Die Ochsen waren riesig und schwarz. Der Regen, der auf ihre breiten Rücken pladderte, verdunstete dort, sodaß über ihnen kleine Dampfwolken aufstiegen. Sie stanken nach Jauche, Tod und Wahnsinn. Im Gegensatz zu normalen, friedlichen Milchkühen hatten sie sehr kleine Augen, blutunterlaufen. Man hatte ihnen Eisenringe durch die Nasen gebohrt. An diesen Ringen war ein stabiles Band befestigt, das der Kutscher in der Hand hielt. Er brauchte wohl neben seiner Peitsche ein zusätzliches Druckmittel, um diese Muskelberge zu motivieren. Die Tiere guckten mißmutig und der Sabber lief ihnen an der Seite aus dem Maul. Ab und an schlugen sie mit ihren schlammverkrusteten Schwänzen hin und her. Dabei flogen kleine Dreckbrocken durch die Gegend. Wenn ich als Kind meine Tante besucht hatte, war da immer Ochsenschwanzsuppe aufgetischt worden.
Auf dem Wagen waren längseitig zwei Bänke montiert. Auf jeder Seite saßen sechs von uns. Wir waren so gezwungen, die ganze Zeit über die andere Reihe anzugucken, wie deren Köpfe bei jedem Schlagloch hin und her, hoch und runter schlenkerten. Ich mußte an eine aufblasbare Sexpuppe denken, die mir ein paar Kumpel vor Jahren mal zum Geburtstag geschenkt hatten. Das war der reinste Nepp gewesen: der Kopf durch einen viel zu dünnen Hals an den Körper geklebt, und wenn man die Puppe hin und her schüttelte, dann wackelte ihr Schädel, als würde er gleich abfallen.

Von den Kopfbewegungen mal abgesehen, hatten die Jungs hier im Wagen wenig mit Sexpuppen zu tun. In der Dunkelheit hatte ich sie gar nicht richtig sehen können, aber jetzt, wo wir uns gegenübersaßen und die Dämmerung langsam den Hintern hochkriegte, konnte ich sie mir besser betrachten. Außer Marlsen, der sich neben den Kutscher gepflanzt hatte, war ich der einzige Mensch auf dem Wagen.
Eigentlich bin ich kein Hänfling, mit meinen einsfünfundachzig und dem Bierbauch. Aber die anderen Jungs auf dem Wagen sahen um einiges stabiler aus als ich. Die Hälfte von ihnen trug lange Bärte. Zwerge. Ich hatte mir als Kind Zwerge immer winzig klein vorgestellt. Doch die hier waren alles andere als klein. Na gut, sicherlich reichten sie nicht weit nach oben, sie gingen mir vielleicht so bist zur Brust. Aber dafür luden sie zu den Seiten aus wie spanische Galeonen unter vollen Segeln. Ihre Oberkörper waren breiter als lang, ihre Arme glichen riesigen roten, dicken Bohnen. Der Kleinste unter ihnen wog garantiert ebenso viel wie ich. Ohne ein Gramm Fett.
Sie redeten nicht viel, und wenn, dann nur untereinander in einer Sprache, die ich nicht verstand und die vor allem aus Gurgeln und Schnalzen zu bestehen schien. Vielleicht waren es aber auch nur Verdauungsprobleme.
Dann waren da noch sechs grünhäutige Typen mit schwarzen Haaren. Sie waren nicht direkt groß. Sie waren vielmehr riesig. Lang wie Basketballspieler, Figuren durch die Bank wie Schwarzenegger. Ich schätze mal, daß jeder von denen gute hunderfünfzig Kilo auf die Waage gebracht hätte. Wieder ohne Fett.
Sie redeten nur untereinander. Wenn einer von ihnen mich anguckte, dann konnte ich in seinen Augen sehen, was er von mir hielt: Für ihn war ich ein kleiner Haufen weißhäutiger Dreck, etwas, daß er sich morgens nach dem Frühstück zwischen den Zähnen rauspulte.
So zuckelte ich in einem Ochsenwagen dahin. Allein mit elf Typen, die ihren wilden Träumen nachhingen, in welchen Opfer wie ich nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht wurden. Und unsere Köpfe schaukelten hin und her und hin und her.

Es regnete weiterhin. Der Wagen hatte kein Dach, auch keine Zeltplane oder sowas für obendrüber. Bald waren wir alle durchweicht wie Madeleines, die man in Tee tunkt. Immer, wenn der Wagen über eine besonders tiefe Rille holperte, wurde ich hochgeworfen und knallte dann mit einem nassen Squwatsch! wieder auf die Bank. Den Zwergen ging es nicht anders, aber die Grünhäutigen waren zu schwer für dieses Flummigehopse. Die Bank ächzte unter ihnen und ich wartete darauf, daß sie irgendwann brechen möge. Doch sie hielt durch.

Gegen Mittag stoppte der Wagen. Unweit des Wegs war eine Art Unterstand aus Felsgestein, der wohl häufig als Rastplatz genutzt wurde, denn es fand sich unter den überhängenden Felsen auch eine Feuerstelle. Allerdings wehte der Regen unter die Felsen und es gab kein trockenes Holz, mit dem wir ein Feuer hätten machen können. Marlsen hatte in einem Sack mehrere Dosen Erbsensuppe und einen Stapel Blechteller. Er warf uns den Sack zu und ging dann zusammen mit dem Kutscher rüber zu einem kleinen Gasthaus, das in Sichtweite vom Rastplatz stand und aus dem Schornstein dampfte. Da ich keine Lust auf kalte Erbsensuppe hatte, ging ich ihnen nach. Aber das Gasthaus hatte einen Türsteher mit Löwenmähne und Zungenpiercing, der mich nicht reinließ. Nur für zahlende Gäste...
Also ging ich zurück zu den anderen. Die hatten inzwischen die Erbsensuppe unter sich aufgeteilt. Es war eine gute Erbsensuppe, mit dicken Wurststücken drin, und sie roch verführerisch. Ich kriegte nichts ab. Während die anderen grunzend fraßen, ging ich mit knurrendem Magen rüber zu den Ochsen, nur, um irgendwas zu tun zu haben. Die Ochsen zupften ein paar Grasbüschel raus, die für sie erreichbar waren. Nicht gerade die richtige Portion für solche Fleischberge. Ihnen ging wohl was ähnliches durch die Köpfe, denn als ich einem von ihnen nahe kam, um ihn zu streicheln, versuchte der, mich zu beißen. Er war zu langsam und erwischte meine Hand nicht. Wütend stampfte und scharrte er mit den Hufen und brüllte, daß mir die Eingeweide flatterten. Wir fanden irgendwie keine gemeinsame Basis, der Ochse und ich.

Eine halbe Stunde später ging es weiter. Wir saßen wieder auf den Längsbänken und ließen unsere Köpfe wackeln. Die Grünhäutigen hatten sich anscheinend während der Pause gegen mich verbündet. Jetzt ließen sie verschiedenartigste Beleidigungen vom Stapel.
„Ey, Chinasky, du hast die häßlichste Visage, die mir je begegnet ist!“
„Hey, Weißarsch! Hamse dich in Domestos gebadet oder was?!“
„Chinasky, ich hab deine Mutter von hinten gepimpert!“
„Hey, Kleiner, ich freu mich schon auf die gemeinsamen Abende im Camp. Gibt’s da ne Liste, in die man sich eintragen muß, oder hälst du jedem deinen Arsch hin?“
Ich guckte zwischen ihnen hindurch auf die vorbeiziehende Regenlandschaft und tat, als würde mich das alles nichts angehen. Was soll's, dachte ich. Schließlich sind wir nicht auf dem Weg zu einem fröhlichen Ferienlager.

Losglück

 


Wir erinnern uns: Hank hatte den Fehler begangen, zwei hübsche Anglistikstudentinnen aus good old Europe in seine Wohnung zu lassen. Flup! – hatte er ein kleines Metalldingens im Ohr und landete im Cyberspace. Dort hatte man gerade auf einen wie ihn gewartet. Mit einer Gruppe netter Leute, die er allesamt in irgendwelchen Kneipen kennengelernt hatte, machte Hank sich auf, die Welt zu retten...
Bullshit. Wenn Hank eines nicht vorhatte, dann dies, die Welt zu retten. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben. Er hätte gern weiter gemütlich im Freundlichen Arm gesessen, dem Schwager Jaheiras seinen Weinkeller leergesoffen und der Zeit beim Verrinnen zugesehen. Man – das heißt Sally – zwang ihn eines Morgens, sich zu Fuß in Richtung Nashkell zu begeben. Frühmorgens! Zu Fuß! Er wußte weder, was dieses Nashkell war, noch wo es zu finden sei. Er glaubte, daß es keine wirklich kluge Idee sein könne, die Welt zu retten. Und in diesem seinem Glauben war er nun bestätigt worden. Man war auf einen eher schwergewichtigen Herrn Oger getroffen. Dabei hatten sich Mißverständnisse eingeschlichen, ein Wort gab das andere, irgendwie kam es schließlich zu krisenhaften Konfliktlösungsstrategien und – nun ja – Gewalt. Ähnlich, wie der große Deumel aus Baldurs Tor war dabei der große Oger umgefallen. Ratet mal, auf wen...

Den Punkt, bis zu welchem ich mich schlecht fühlte, hatte ich hinter mir. Nun fühlte ich gar nichts mehr. Ich lag so rum, schaute mir meine Hand an, die da krallenartig sich streckte, ohne daß ich sie hätte bewegen können, und dachte mir: Aha, das ist also der Tod. Vor mir flimmerten drei Schriftzüge wie aus wurstfarbenen Neonröhren: „Reload – Exit – Continue“. Was das sollte, war mir schleierhaft. Reload – ja was sollte denn erneut geladen werden? Einen Ausweg sah ich auch nicht und entschied mich, weiterzumachen. Continue. Womit machte ich weiter? Vorerst mit Herumliegen.
Auf mir lastete ein achthundert Kilo wiegender Fleischberg, der mit einem Ellbogen meine Schläfen eingedrückt hatte. Eigentlich schien das Spiel aus zu sein. Seltsamerweise kriegte ich immer noch mit, was das da draußen für ein Wetter war. Seltsamerweise ärgerte ich mich immer noch, bei so einem Wetter überhaupt auf die Straße gegangen zu sein. Allerdings hatte ich ausnahmsweise mal keinen Bierdurst.

Die anderen kamen angerannt. Vorneweg Sally, ihr auf den Fersen Babydoll Moni, Khalid und Jaheira. Nur Bayan ließ sich etwas Zeit und spazierte gemütlich hinterher.
„Oh mein Gott, er hat Hank umgebracht!“, rief Sally. „Dieses miese, dreckige Ogerschwein hat meinen Geliebten geplättet. Arrgh, das wird er bereuen, dafür mache ich ihn...“
Jaheira sah die Sache nüchterner: „Der wird nix mehr bereuen, der ist völlig hinüber. Guckt doch mal, Moni hat ihm die Zähne bis runter in den Schlund verpflanzt. Und hier: die Pfeile von Bayan stecken in seinen Augen wie Kerzen in Götterspeise!“
„Aber wir sollten Hank doch helfen. Vielleicht kann man ihn ja reanimieren?!“, fragte Moni. „Jaheira, kannst Du sowas nicht?“
Jaheira blickte skeptisch auf mich runter und murmelte: „Naja, manchmal hilft Mund-zu-Mund-Beatmumg. Aber das kam bei mir im Erste-Hilfe-Kurs noch nicht dran.“
„Dann versuche ich es eben!“
Monit beugte sich über mich und drückte mir ihre bärtigen Lippen in die Visage. Sofort schreckte sie zurück. „Der Typ stinkt aus dem Maul, das ist ja abartig! Verweste Fische sind dagegen etwas, das man sich als Parfum hinter die Ohrläppchen tupfen möchte! Wer den von Mund zu Mund beatmen will, riskiert sein eigenes Leben!“
„Ich frage mich auch, ob Mund zu Mund-Beatmung da noch viel bringen würde.“, ergänzte Jaheira „Mir sieht es so aus, als hätte er einen Schädelbasisbruch. Wie der Rest seines Körpers beschaffen ist, können wir erst in Erfahrung bringen, wenn wir den Oger von ihm runtergewälzt haben.“
„Ja, aber irgendetwas müssen wir doch mit Hank machen!“, jammerte Sally.
„Wir könnten ihn den Raben zum Fraß daliegen lassen.“, schlug Bayan vor, der inzwischen herangeschlendert war.
„D-d-d-du bi-bi-bist ein h-h-h-herzloser B-b-b-bube!“, empörte sich Khalid.
Auch Sally guckte den Drow skeptisch an. Ja, sie liebte mich eben! Ich genoß ihre Solidarität über den Tod hinaus.
„Ich wüßte da eine Möglichkeit.“, meinte Moni, „Hier in der Gegend gibt’s ein kleines Dorf und etwas östlich dieses Dorfes gibt’s einen Tempel, in welchem ein Priester arbeitet, der vor Jahren mal in einem Seminar von mir abgeschrieben hatte. Wurde strafversetzt dorthin. Von ihm könnten wir Hank wiederbeleben lassen!“
„Sowas ist machbar?!“, fragte Sally hoffnungsvoll.
„Na klar, Wiederbelebungen hat jeder niedergelassene Geistliche im Repertoire. Man zapft einfach die Essenz Gottes an und...“
„Welchen Gottes denn bitteschön?“, unterbrach Jaheira. „Soweit ich informiert wurde, gibt es überhaupt keine Götter, sondern nur die allgewaltige Mutter Natur! Deren Schwingungen man allerdings durch Interferenzmodulationen...“
„Keine Götter?!“, kreischte Moni, „Du leugnest die wahre Existenz der allerhöchsten Entitäten, du zweifelst an den ewig wahren Emanationen göttlicher Wesenheit? Schweig lieber still, wenn du nicht den Zorn der Himmelsherrscher auf uns herabbeschwören willst.“
„Shar ist keine Himmelherrscherin.“, mischte Bayan sich ein.
„Shar? SHAR?!“ Moni konnte sich kaum noch einkriegen. „Shar ist eine stinkende Pervertierung des Gedanken des Göttlichen. Wir sprechen hier von echten Göttern, solche, die da oben in den Wolken thronen und weiße Bärte tragen...“
„Schon manch einer, der Shar lästerte, hätte kurz hernach mit seinem Bart höchstens noch die eigenen Eingeweide vom Boden aufwischen können.“
„Ach ja? Da bin ich aber mal gespannt, wie es soweit kommen konnte!“
„Wenn es dich tatsächlich interessiert, kann ich’s dir demonstrieren...“

Ich lag da und hörte mir's an. „Typisch“, dachte ich. „Sobald der Lotse das sinkende Schiff verläßt, gehen die Ratten sich gegenseitig an die Kehlen.“ Oder war es der Kapitän? Oder verließen nicht zuerst die Ratten und dann der Lotse und am Ende der Kapitän das Schiff? Mein Ableben hatte mich ein wenig verwirrt.

„Hört auf zu streiten!“, rief Sally. „Mein Geliebter lieg dort unter einem Monster begraben und ihr müßt hier schon wieder eure weltanschaulichen Debatten führen?! Wenn nicht mal wir in Zeiten der Krise zusammenhalten könnnen, wie soll da dann in der großen Politik Frieden einkehren?“
„G-g-ge-n-n-n-nau!“
„Muß die Schwuchtel jetzt auch noch ihren Kommentar abgeben?“, erkundigte Bayan sich.
„Besonders du bist gemeint, Drow!“, zischte ihn Sally an. „Wenn du deinen Esprit zur Abwechslung mal darauf verwenden könntest, konkrete Problemlösungsvorschläge zu machen, statt immer nur gegen die Schwachen herumzusticheln...“
Khalid wollte eine Einwendung machen, aber Jahreira legte ihm besänftigend die Hand auf seinen Schwertarm.
„Ich sehe das so“, sagte sie, „daß Moni im Prinzip Recht hat. Wir können Hank bis zum nächsten Tempel schleppen und dort wiederbeleben lassen. Zum Glück fehlen ihm ja keine wesentlichen Körperteile und er ist nur ein wenig .. ähm... eingedellt. Ein Problem, das ich allerdings sehe...“
„Ja?!“, fragte Sally besorgt.
„Nun – diese Wiederbelebungsprozeduren kosten ein Heidengeld. Ist ja klar: Moderne Gerätemedizin und so. Und Hank hat wohl kaum eine gültige Wiederbelebungsversicherungspolice abgeschlossen, oder? Es dürfte also teuer werden, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Wie sollen wir das bezahlen?!“
„Im Angesicht des Todes denkst du an Geld?“ Sally war benommen von soviel Kaltherzigkeit.
Ich hätte gern zustimmend genickt. Yeah Baby, go for me!
“Wenn man es neutral betrachtet, dann geht es Hank tot besser als lebend.”, überlegte Jaheira laut. „Er stinkt weiter vor sich hin, aber er muß nicht mehr soviel saufen und daher hat er auch keinen Kater mehr. Zu was anderem als Trinken war er doch eh nie zu gebrauchen. Vielleicht tun wir ihm gar keinen Gefallen, wenn wir ihn wiedererwecken lassen? Wenn wir’s beim status quo beließen, würde uns das jedenfalls keine müde Mark kosten.“
„Manchmal haben auch weißhäutige Elfen ganz stimmige Ideen.“, meinte Bayan.
„Dich hat niemand gefragt!“, schnauzte Sally ihn an, „Halt doch endlich mal dein verdammtes Lästermaul! Neutral betrachten, neutral betrachten! Habt ihr sie noch alle? Das ist Hank, unser geliebter Anführer! Jawohl, grinst nicht so, vielleicht habt ihr ihn nicht geliebt, aber ich schon. Er ist unser Anführer, auch wenn er die meiste Zeit hinterhergezuckelt kam. Ohne ihn wäre unsere Party doch nie in die Gänge gekommen!“
„Da ist was dran.“, stimmte Babydoll Moni zu.
„Siehste!“, nahm Sally dankbar den Beistand an. „Also ich bin dafür, daß wir Hank in diesen Tempel schleppen und dort wiederbeleben lassen. Koste es, was es wolle!“
„Dann laßt uns neutral und demokratisch abstimmen!“, schlug Jaheira vor.
Alle waren einverstanden.
„Okay“, riß Bayan das Procedere an sich, „Wer ist dafür, daß wir Hank den weiten Weg bis nach Beregost schleppen, abwechselnd und obwohl er so fett und schwer und stinkend ist und obwohl seine Wiederbelebung uns finanziell total ruinieren wird? Der hebe jetzt bitte die Hand!“
Sallys Hand schoß empor. Auch Moni hob zögerlich die ihre.
„Gut!“, meinte Bayan. „Dann jetzt die Gegenprobe! Wer ist dagegen, daß wir uns mit dem Stinkstiefel abschleppen? Also ich auf jeden Fall!“ Er hob seine Hand.
Jaheiras Hand ging ebenfalls hoch, wenngleich mit weniger Verve. Oh Jaheira-Babe, daß unter Deinem enganliegenden Kettenhemd ein so kühles Herz schlagen könne, hätte ich nie angenommen...
„Also unentschieden.“, stellte Moni fest.
„Wieso unentschieden?!“ Bayan war perplex. „Was ist mit Khalid, wieso hat der nicht mit abgestimmt? Khalid ist Jaheiras Ehemann, daher zählt seine Stimme für die Nein-Fraktion. Also haben wir drei zu zwei gesiegt!“
„N-n-n-nein!“, protestierte Khalid, „I-i-i-ich e-e-enth-h-h-ha-halte m-m-m-mich lieber.“
„Wahlenthaltung gibt’s in solchen schwerwiegenden Fragen nicht.“, meinte Bayan.
„Warum nicht?“, wollte Moni wissen, „Wer bitteschön entscheidet das? Natürlich kann man sich der Stimme enthalten, wenn man sein Gewissen erforscht hat und zu keinem klaren Enschluß finden konnte!“
„Aber wie soll denn das nun fuktionieren?“, warf Jaheira ein, „Zwei zu zwei. Das ist eine Pattsituation. Khalid, ich will dich ja gar nicht beeinflussen, aber bist du dir deiner Enthaltung ganz sicher? Du machst uns damit sozusagen handlungsunfähig...“
Khalid nickte entschlossen.
„Ja – und nun?!“, wollte Moni wissen.
„Das Los muß entscheiden!“, meinte Bayan. „Ich habe hier in meiner Hand zwei Strohalme, einen hellen Langen und einen dunklen Kurzen. Hier, Jaheira, zieh einen! Wenn du den Kurzen ziehst, lassen wir Hank hier, wenn einen Langen, dann...“
„Hältst du uns für Trottel?“, kreischte Sally. „Deine Tricks sind derartig durchschaubar...! Nun gut, laßt das Los entscheiden. Aber auf eine faire Weise. Hier, Khalid, nimm diese Münze und wirf sie in die Luft! Wenn nachher die Zahl oben liegt, lassen wir Hank liegen, wenn der Kopf oben ist, nehmen wir ihn mit. Alle einverstanden?“ Sie blickte streitlustig in die Runde. Aber niemand hatte Einwände. Ich hätte mich gern geäußert, aber mich fragte keiner.
Khalid nahm die Münze und schnippte sie in die Luft. Plirrend fiel sie zu Boden und kullerte und kullerte und kullerte.... Und blieb endlich liegen. Auf dem Rand. AUF DEM RAND!!! Meine Mitstreiter guckten blöd. Auch die Münze konnte sich nicht entscheiden! Sie stand da, vibrierend, aber aufrecht, wenige Handbreit vor meiner Nase. Ich konnte dem eingeprägten Kopf sozusagen in die Augen schauen. Sie stand da und konnte sich nicht für eine Seite entscheiden. Auch der Münze war mein Schicksal völlig schnuppe. Es war so frustrierend! Selbst meinem toten Körper war das zuviel. Entmutig ließ er einen letzten gewaltigen Furz fahren. Das schreckte eine Fliege auf, die auf meinem Hinterteil herumgekrabbelt war. Sie surrte aufgeregt im Kreis herum und entschied sich dann für einen anderen Landeplatz: Die Münze. Ich konnte es vor mir sehen. Diese Fliege balancierte frivol auf der Münze herum, welche mein Leben bedeutete. Mit drei Beinen hielt sie sich an der Kopfseite fest, mit dreien an der Zahlseite. Immer noch unentschieden... Doch dann – dann fiel es ihr ein, sich zu kratzen. Sie nahm ein Hinterbein hoch, um sich damit unterm Flügel zu jucken. Es war das Bein auf meiner Seite. Die Zahlseite kriegte ein minimales Übergewicht. Die Münze kam ins Wanken. Die Fliege war irritiert. Sie wollte sich abstoßen. Doch zu spät! Krachend, in majestätischer Zeitlupe, fiel die Münze um.
Klimp...

***

Ich saß draussen auf einem Wollmantel, den ich über dem sommertrockenen Gras ausgebreitet hatte. Mit dem Rücken an die von der Sonne erwärmte Tempelmauer gelehnt , blinzelte ich in die ockerweißen Wolken empor. Daran mußte ich mich erst wieder gewöhnen: Sitzen, lehnen, blinzeln, atmen. Es fühlte sich gut an. Es war sagenhaft. Lebendig an einer warmen Tempelmauer sitzen. Es gab nix besseres! Naja... ein kühles Bier hätte die Sache vielleicht abgerundet.
Um die Ecke hörte ich Schritte, leichte, weibliche Schritte. Es war Sally. Sie kam rüber und setzte sich zu mir ins Gras. Sie legte ihre Hand in die meine. Gemeinsam blinzelten wir hoch zu den Wolken, deren Ockerweiß immer goldener wurde. Bald würde es dunkeln. Alles war gut.
„Du, Hank?“
„Yeah Baby?“
„Es ist schön, dich wieder am Leben zu sehen.“
„Keine Einwände meinerseits.“
„Es war ein ziemlicher Akt, dich hierher zu schleppen, weißt du?!“
„Hhmm...“
„Bayan und Jaheira, sie waren ja nicht ausgesprochen dafür, dich hier in den Tempel zu schaffen...“
„Nicht dafür, Baby? Die wollten mich den Raben zum Fraß überlassen.“
„Naja, aber sie haben schließlich den Losentscheid akzeptiert, das mußt du zugeben.“
„Hhmmm....“
„Und sie haben beim Tragen geholfen.“
„Hhmmm...“
„Ich meine – naja, man kann sie doch verstehen. Jaheira hatte ja auch recht, es war eine verdammt teure Angelegenheit, weißt du?“
„Baby, ich hab das Gefühl, als wolltest du mir was verklickern, und kämest nicht so recht raus mit der Sprache.“
„Naja, weißt du – es war teuer und so und wir mußten alle diese Schuldscheine unterschreiben beim Priester. Wo drin steht, daß wir, wenn wir das Gold nicht innerhalb eines Jahres mit den 37,5% Zinsen zurückzahlen, jeder drei Pfund Fleisch aus seinem eigenen Körper zu schneiden und damit zu zahlen haben.“
„37,5%? Das ist Wucher! Und warum gleich drei Pfund? Ich meine, ein Pfund hätte früher locker ausgereicht. Verdammte Inflation, die Preise fliegen über den Markt!“
„Hank, es geht darum, daß wir momentan keinen roten Heller mehr haben. Ob 37 oder 10 Prozent, das ist da relativ egal. Wir müssen Gold auftreiben und zwar schnell, so ein Jahr ist rum wie nix.“
„Wieviel?“
„Ich hab den Preis auf 3000 Goldstücke runterdrücken können.“
„Wie – runterdrücken...?“
„Naja, du weißt schon...“
„Baby, ich will nicht, daß du fremden Priestern deinen Prachthintern hinhältst, nur, um ein paar Prozente rauszuschlagen!“
„Was hätte ich ihm denn sonst hinhalten sollen? Meinst du, er hätte deinen Arsch akzeptiert? Mit all den Haaren dran?“
„Naja, ich weiß nicht. Das geht irgendwie gegen meine Ehre.“
„Gegen DEINE Ehre?!! Wenn ich meinen Podex... Und was ist mit meiner Ehre?“
„Für dich ist das ein normaler Job.“
„Hank, ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, dich wiederzuerwecken.“
„Allright, entschuldige bitte! Aber was genau willst du jetzt von mir?“
„Wir müssen Gold auftreiben. Und das können wir nicht allein. Dazu brauchen wir die Hilfe von Freunden...“
„... solchen Freunden wie diesem blonden Nigger, oder was?!“
„In der Stunde der Not kann man sich seine Freunde nicht aussuchen.“
„Woher kommt nur mein Gefühl, als würdest du manche deiner Sätze aus irgendwelchen Groschenromanen borgen?“
„Hank, lenk nicht vom Thema ab!“
„Schon gut, schon gut. Brauchst dich nicht zu sorgen. Bayan ist ein Drecksloch, aber mit Dreckslöchern hab ich Erfahrung. Kein Problem.“
„Und was Jaheira angeht...“
„Die ist eine verfickte Kettenhemdschlampe, aber egal. Man kann nicht beides haben, solche phänomenalen Titten und Moral...“
„Hank!!!“
„Naja, Baby, Ausnahmen wie du bestätigen die Regel.“
„Findest du meine Titten wirklich phänomenal?“
„Das weißt du doch...“
„Beweise es mir!“
„Sally, deine Titten sind der Hammer. Ungelogen! Großes Trinkerehrenwort! Aber weißt du – naja, bis eben war ich noch tot. Ich bring’s momentan einfach nicht, dafür wirst du doch wohl Verständnis haben, oder? Ich meine – naja, warum gucken wir uns nicht einfach erst mal diesen verflucht schönen Sonnenuntergang an?! Wenn man eine Weile weg war vom Fenster, dann lernt man, auch an den kleinen Dingen Gefallen zu finden.“
„Hank, kann es sein, das mit deiner Potenz was nicht in Ordnung ist?“
„Du bist zu fleischlich fixiert, Sally. Potenz ist nicht alles...“
„Potenz ist alles! Potenz – potentia – die Möglichkeit, die Kraft, die Fähigkeit! Das ist alles! Was soll da sonst noch sein, wenn es nicht mal mehr die Kraft und die Möglichkeit gibt und all dieses Zeug?“
„Herrgottnochmal, ich bin ganz einfach müde, okay? Sowas schlaucht, diese Wiedererweckung und der ganze Kram. Das steckt man nicht einfach so weg! Ich bin ja nicht mehr der Jüngste. Klar, früher, da gab’s für mich gar keinen Kater, aber heute ist das anders...“
„Oh Mann, jetzt komm mir nicht wieder mit deinen Heldentaten von früher! Früher war Hank der Größte, früher hatte Hank den Längsten, Härtesten, Größten, früher war Hank der Hengst des ganzen Viertels, früher... Immer wenn du so redest, dann kommt es mir vor, als würde ich meinen Großvater hören. Zahnlos vorm Küchenofen sitzt er und nuschelt von seinen Kriegserlebnissen rum. Früher war früher. Jetzt ist jetzt. Also – was ist jetzt?“
„Ich hab Migräne...“
„Verflucht nochmal, was soll das jetzt? Ich habe dem Priester meinen Allerwertesten hingehalten – und jetzt soll das umsonst gewesen sein? Wozu haben wir dich denn wiedererwecken lassen, wenn du ihn jetzt nicht mal mehr hochkriegst? Kopfschmerzen! Daß ich nicht lache! Was ist los mit dir? Wechseljahre? Eisprung?“
„Sally, kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Du tust mir ja auch keinen!“
„Sally, laß es uns auf später verschieben. Morgen oder so. Wenn ich wieder etwas fitter bin. Jetzt bin ich nicht in Stimmung. Du hast phänomenale Möpse, da ist gar nix zu diskutieren, dazu steh ich, die Dinger sind unerreichbar, dagegen verblassen die von Jaheira wie ein Eis in der Sonne...“
Jaheira, Jaheira, Jaheira!!! Ich glaube, du hast die ganze Zeit nur dieses Flittchen im Kopf. Willst dir den Saft für sie aufsparen, wie?“
„Och Mönsch, Sally, nun sei doch mal entspannt! Du hattest sie doch ins Gespräch gebracht! Du wolltest doch, daß ich ihr verzeihe...“
„Naja, schon, aber...“
„Siehste! Komm, wir vertragen uns und gucken uns diesen Sonnenuntergang an.“
„Na gut.“
„Es ist ein unglaublich rotgoldener Sonnenuntergang.“
„Wenn du meinst...“
„Wie diese rote Kugel da majestätisch hinter den Gräsern wegsinkt!“
„Jaja...“
„Und hörst du? Die Vögel, sie verstummen. Die gehen alle pofen.“
„Hank?“
„Yeah, Baby?“
„Eis schmilzt in der Sonne, es verblaßt nicht.“
„Naja, dann schmilzt es eben.“
„Aber wie können Jaheiras Titten denn schmelzen?“
„Sowas nennt man poetische Freiheit.“
„Ach so.“
„Sally, du bist ein Schatz.“
„Hhmmm...“
Sie kuschelte sich an mich und während die Sonne sich verkrümelte, dämmerte auch meine Sally langsam weg. Bald schlief sie fest, ihren süßen Mund ein wenig geöffnet, und schnarchte ganz leise und fein. Passend zum Zirpen der Grillen. Es war eine sehr, sehr laue Nacht. Während die Dunkelheit schon länger hereingebrochen war, strahlte die Tempelmauer immer noch Wärme aus. Manchmal paßt alles zusammen. Manchmal gibt es goldene Stunden im Leben. Mit Frieden und Geborgenheit und all dem Zeug, was sonst noch dazugehört. Sternschnuppen am Firmament, der Gesang einer Nachtigall und ein runder, weicher Frauenarsch, an den man sich schmiegen kann. Es sind diese Momente, deretwegen sich das Leben lohnt. Man schwebt so in seiner Existenz, schwerelos, ohne Anstrengung, es ist alles gut in den goldenen Stunden.
Leider sind sie selten.

Ich wachte auf, weil Sally sich im Schlaf rumgedreht hatte. Dadurch rutschte ich zur Seite weg, mein Kopf schrappte an der Tempelmauer entlang, ich riß mir das halbe Ohr ab und landete mit der Schnauze im taunassen Gras. Sally schien irgendwas Komisches zu träumen, sie murmelte und wimmerte im Schlaf. Irgendwie hatte sie es geschafft, den Mantel, auf welchem wir gesessen hatten, um sich herumzuwickeln. So lag sie da friedlich, warm eingemümmelt, und redete in ihren kleinen Mädchenträumen. Ich saß mit einem vom Tau durchnäßten Hosenboden da, mein Ohr blutete vor sich hin und es war inzwischen saukalt. Wie spät mochte es sein? Ich guckte hoch zu den Sternen. Keine Ahnung, wie man von denen die Uhrzeit ablesen konnte. Ich wußte ja nicht mal, ob die sich nun rechts- oder linksrum drehten. Es war ganz einfach mitten in der Nacht, das mußte mir reichen. Ich stand auf, ging ein paar Meter in die Dunkelheit hinein und shiffte ins Gras. Und jetzt? Was lag an?

Vielleicht hatte der Priester von diesem komischen Tempel noch ein Zimmer mit Bett frei. Zumindest eine Mönchszelle oder etwas in der Art. Leider waren die Tempeltüren verschlossen, ich latschte einmal ums ganze Gebäude und da war nicht mal irgendwo ein Fenster offen. Na fein! Ich hörte ein klagendes Rufen.
„Hank? Hank, wo bist du?!“
„Hier, Baby.“
„Ach da...“ Sally schien von ihren Träumen geweckt worden zu sein. Sie kam rüber zu mir, ich erkannte ihre Silhouette im Mondlicht. Sie schleifte etwas hinter sich her. Den Wollmantel. So konnte er sich schön mit dem kalten Tau vollsaugen.
„Hör mal Hank, ich glaube, ich hab eben ein komisches Heulen gehört, du nicht auch?“
„Ich dachte, das wärest du gewesen.“
„Nö, ich heule doch nicht. Für mich hörte sich das wie das Heulen eines Hundes an. Oder eines Wolfes oder so.“
„Mensch, jetzt hör auf, einem alten Mann Angst einzujagen! Erzähl lieber mal, wo die anderen abgeblieben sind.“
„Siehste, das wollte ich dir ja vorhin schon erzählen: Die sind in das Nachbardorf gegangen, um sich mal etwas umzuschauen.“
„Das ist jetzt aber schon ne Weile her, oder?“
„Naja...“
„Was machen wir jetzt? Ich friere mir hier so langsam den Arsch ab.“
„Wie wäre es mit einem romantischen Mondspaziergang?“
Frauen, die in fünfeckigen Räumen zu hausen pflegen, haben manchmal so abgedrehte Ideen. Romantischer Mondspaziergang! Ich rüttelte lieber etwas an den Fensterverschlägen des Tempels. Erfolglos. Schon wieder heulte es in der Nähe. Verdammt nah in der Nähe. Hinter uns, im Dunkeln. Ich drehte mich zu dem Heulen um. Da war nichts, nur Finsternis, aufgelockert von ein paar Schatten. Doch, da war noch was. Ein Schnüffeln.
„Sally, hast du eben geschnüffelt?“
„Das gleiche wollte ich eigentlich dich fragen, Hank!“
Etwas raschelte da im Dunkeln. Und tapste. Und schnüffelte. Und leuchtete. Leuchtete? Ja, doch, da waren einige fahlgelbe Lichtpunkte in der Dunkelheit. Zwei. Vier. Acht...
„Sally, weißt du, was eine Räuberleiter ist?“
„Zeig es mir bitte ganz, ganz schnell! ...“
Ich zeigte es ihr. Sie lernte rasch. Der Tempel hatte ein Flachdach. Ich wuchtete meine neunzig Kilo da hoch. Sie warf mir den nassen Mantel hinterher. Ich hielt ihn von oben so runter, daß sie sich daran emporziehen konnte. Es krachte verdächtig in den Nähten, aber er hielt. Er hätte auch nicht reißen dürfen. Denn noch im letzten Moment blitzten im Mondlicht plötzlich eine Reihe langer, spitzer, weißer Zähne auf und schnappten nach Sallys linkem Fuß, den sie zu spät hochzog.
„AAAAARRRRGHHH!!“, schrie sie, „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt...“
„Baby, was ist?! Oh mein Gott, zeig her, wir können die Blutung vielleicht irgendwie stoppen...“
„Welche Blutung, zum Henker? Argh, dieses Mistvieh, dieses zottelige Monster, dieser stinkende Sohn einer Hündin! Hier, siehst du, Hank? Hier, schau, was er mir angetan hat!“
Ich schaute mir ihren Fuß an. Er war hübsch, dieser Fuß, schlank an der Fessel, weich und bleich schimmernd im Mondlicht. Ich konnte keinen Kratzer entdecken.
„Baby, ich kann keinen Kratzer entdecken!“
„Ja, Herrimhimmel, und warum wohl? Weil er weg ist!“
„Sally, da ist noch alles, wie es sein sollte, da fehlt nichts!“
„TYPISCH MANN!!!“
Und dan sah ich es. An ihrem rechten Fuß. Einen Schuh. Einen hübschen blauen Schuh aus Kalbsleder. So mit recht hohem Absatz dran. Passend zu ihrem Kleid. Freilich, eine Katastrophe. Nicht nur, daß dort unten, kaum drei Meter tief, sich eine Vollversammlung sämtlicher Wölfe der Schwertküste eingefunden hatte, die beratschlagten, mit welcher Soße sie uns verspeisen sollten – nein, Sally hatte auch noch ihren Lieblingsschuh eingebüßt, den ihr mal einer ihrer Freier aus den guten alten Kerzenburgzeiten geschenkt hatte. DAS waren echte Probleme.

Ich wrang den Mantel aus, setzte mich drauf, popelte in der Nase und versuchte, die Ergebnisse dieser Bohrübungen in eines der gelben Augen zu schnippen, die drunten gierig emporstarrten und über das System der Räuberleiter sinnierten. Sally schimpfte und kreischte noch ein Weilchen, dann setzte sie sich neben mich. Es war kalt. Wir warteten.

Sonntag, Juni 08, 2014

Schmierseife und Eisenkrise








In den ersten fünf Teilen passierte nicht viel. Hank wurde reingelegt von zwei Mädels, so, wie er sich immer von irgendwelchen Mädels reinlegen ließ. Sie stopften ihm ein elektrisches Ding ins Ohr und prompt landete er im Cyberspace. Dort geriet er an einige seltsame Zeitgenossen, an Frauen mit Bärten, an Nigger mit spitzen Ohren, an stotternde Weicheier und kurvige Rothaarige in fünfeckigen Zimmern. Im Zuge der allgemeinen politischen Verhältnisse wurde einer seiner Spaziergangspartner von ominösen Gestalten im Walde umgenietet. Nach dessen schwieriger Bestattung gurkte Hank mit seinen Freunden etwas durch die Gegend und landete schließlich im Freundlichen Arm, wo er sofort Anschluß an die örtlichen Verlierer fand. Womit wir schon mitten drin wären...

Sie waren verrückt, alle miteinander. Der eine ernährte sich von Stickoxiden, der zweite fraß Ratten und der dritte verhökerte seine Schwestern. Unter solchen Wahnsinnigen fühlte ich mich zuhause.
Was mochte in der Kiste sein? Drei Versuche hatte ich. Sollte ich’s spannend machen? Mir war nicht danach.
 „Allright“, sagte ich, „du Dreikäsehoch meinst also, ich würde nicht drauf kommen, was in dieser Pappschachtel drin ist, wie?“
„Ja Mann, das rätst Du nie! Dagegen war der Name von Rapunzel ein Kinderspiel!“
„Du meinst Rumpelstielzchen...“
„Der erst recht!“ Er nahm einen vorsichtigen Schluck aus seinem Tequila-Glas, hustete, lief rot an und steckte sich die dazugehörige Zitrone ins Gesicht. Sah damit nicht besser aus. „Das mit der Reihenfolge hab ich noch nicht so richtig drauf...“, murmelte er.
„Na gut, also drei Versuche hab ich, right?! Und wenn ich’s rauskrieg, stellst du mir all deine
schnuckeligen Schwestern vor, so sieht der Deal aus, korrekt?!“
„Ja, ja, ja! Nun mach’s nicht so spannend, du kriegst es eh nie raus!“
„Ich weiß, was da in dieser Kiste ist.“
„Gnagnagna! Wenn du’s weißt, dann sag es doch!“
„Bist du dir sicher, daß ich’s sagen soll?“
„Hundert pro!“
„Na gut. Ich sag’s dir in’s Ohr, vielleicht sollen deine Kumpel ja lieber nix davon erfahren. Soll ich’s dir flüstern?“
„Oh Mann, der zieht hier eine Show ab! Aber von mir aus, flüster mir’s.“
„Na, dann neig dein grünes Ohr rüber, Bruder!“
Er hielt mir seine Rübe hin und ich sagte es ihm. Es traf ihn hart.
„Nein, das darf nicht wahr sein!“
„Stimmt doch, oder?!“
„Das – das...! Was – äh- woher, ich meine... Wie konntest du das rauskriegen? Und gleich beim ersten Vesuch?!“
Ich leerte mein Glas auf ex und lehne mich sourverän zurück, soweit ich das auf dem Barhocker hinkriegte.
„Tja, Kleiner, bist eben an einen Profi geraten...“
„Aber... - das ist unmöglich. Du konntest es doch gar nicht wissen! Wir sind uns noch nie begegnet, woher willst du da wissen...“
„Intuition. Schicksal. Kharma. Ich kenn mich aus.“
„Aber da hätte doch alles mögliche in der Kiste drin sein können! Zum Beispiel ein Videorekorder!“
„Dafür ist das Paket zu klein.“
„Naja, dann halt eine Videocasette...“
„Zu groß.“
„Es hätten aber drei Videocasetten zusammen sein können!“
„Zu flach.“
„Oder eine beschissene Sammlung DVDs oder CDs oder Pornoheftchen von meinem Onkel!“
„Hätte sein können, aber dem ist nicht so.“
„Das – das glaub ich einfach nicht. Du hast das einfach so geraten?!“
„Yep.“
„Unglaublich. Ich fass es nicht.“
„Na, irgendwann wirst du’s schon raffen. Wie sieht das mit deinen Schwestern aus, wo kann ich die jetzt treffen?“
Er nuschelte irgendwas.
„Wie bitte? Du mußt schon etwas lauter mit mir sprechen, ich bin ein altersschwacher Poet und meine Ohre lassen langsam ein bißchen nach.“
„Ich – äh... Da ist ein kleines Problem.“
„Jau!“, meldete sich der Zwerg zu Wort, dem noch ein halber Rattenschwanz zwischen den Lippen hervorragte. Schien sich irgendwie in seinem Bart verfangen zu haben. „Pali kann Dir seine Schwestern nicht vorstellen...“
„Exakt!“, fügte das rauchende Biafra-Kind hinzu.
„Und wo genau liegt da das Problem?“
Der Dreikäsehoch nahm eine Prise Salz aus dem Schälchen, daß ihm Jaheiras Schwager neben seinem Tequila gereicht hatte. Er verzog angewidert das Gesicht, biß herzhaft in die Zitrone und dabei spritzte ihm ein Tropfen ins Auge.
„Arrrgh! ARRRGH! DIESE MIESE KLEINE VERSCHRUMPELTE ZITRONE HAT MICH ANGEGRIFFEN! DIESE GELBE MÖHRE, DIESES HINTERFOTZIGE GEMÜSE WILL MICH UMBRINGEN! KILLEROBST AUS DEM ALL BEDROHT DIE MENSCHHEIT! ICH BIN VERLETZT, ICH MUSS IN DIE NOTAUFNAHME, SOFORT, JETZT GLEICH, GESTERN!!!“ Er sprang auf, stieß dabei seinen Barhocker um und hüpfte im Dreieck wie ein minderjähriger Flummi. Es war eine gute Show. Wirkte fast überzeugend. Etwas aufgesetzt vielleicht, aber an jeder Show gibt’s noch was zu verbessern.
Das dachten sich die anderen Gäste wohl auch. Ein paar hatten sich zu uns umgedreht. Sally natürlich nicht, denn wenn jemand rumbrüllte, dann war normalerweise ich das. Sally hatte sich angewöhnt, in solchen Fällen jeglichen Verdacht, wir könnten zusammengehören, zu zerstreuen. Sie liebte mich wirklich, aber jede Liebe hat ihre Grenzen und sich in der Öffentlichkeit mit mir zu blamieren, war nicht Sallys Fall.
Die Leute merkten, daß der Kleine nur eine Show abzog und daß wohl keine weiteren Pointen zu erwarten waren. Also wendeten sie sich wieder ihren Getränken zu. Der Magersüchtige, der Rattenfresser und ich schauten uns den Kistentypen an, wie er da stand, sich mit beiden Händen das rechte Auge hielt, so, als würde dort gleich eine ganze Welle von Blut und Gekröse rausschwappen, und wohl darauf wartete, daß jemand auf sein Stichwort hin die Szene weiterspielen würde.
„Hey, kann es sein, daß du mich hier verarscht hast? Ich habe so den vagen Verdacht, du könntest gar nicht allzuviele junge, willige Schwestern haben...“
„Hey, Chinasky, ich werde dir den Ehrentitel Super-Marlowe an’s Revers heften!“, sagte der Rattenfresser.
Der Dürre nickte dreimal bestätigend. Knack, knack, knack.
“Tut mir leid, tut mir wirklich leid, aber ich konnte doch nicht ahnen, daß du wirklich drauf kommen würdest, was in der Kiste steckt…”, wimmerte der Kleine.
„Ich bin enttäuscht. Es bricht mir das Herz. Du hast also einen gebrechlichen, schwerhörigen, alten Mann hinters Licht geführt...“
„Ohne Absicht, ich schwör’s! Keinesfalls wollte ich dich betrügen, das mußt du mir glauben!“
„Du hast mich also unbeabsichtigt hinter Licht geführt?!“
„Naja...“
„Weißt du, was man dort, wo ich herkomme, mit Falschspielern macht?“
„Ich – äh – nein?...“
„Ich auch nicht. Dort, wo ich herkomme, spielt man nicht falsch. Keine Ahnung, was man dort mit Falschspielern machen würde. Wahrscheinlich würde man ihnen die Augen rausquetschen, die Glubscher in den Mixer stecken, eine Prise Salz und etwas braunen Rum dazu und ein Viertel Limettensaft, dann kräftig shaken und... Da fällt mir ein: Mein Glas ist schon wieder leer.“
„Ich geb dir einen aus, ich geb dir einen aus, ich geb dir einen...“
„Das will ich wohl meinen, Falschspieler!“


Wir saßen am Thresen und die Stimmung war ein wenig gedrückt. Der Betrug lag immer noch wie eine Furzwolke in der Luft. Mir machte der Gestank nichts aus. Ich war’s gewohnt, daß man mich anlog. Lügen waren das einzig Verläßliche in meinem Leben. Alle und jeder logen mich an. Es mußte irgendwie auf meiner Stirn eingaviert sein: Hey los, verarsch mich! Möglicherweise hatte ich schon seit mehreren Jahren kein ehrliches Wort mehr gehört. Vielleicht waren die Wahrheiten inzwischen abgeschafft. Ausgerottet. Oder man hatte sie zumindest gut weggeschlossen. Ich hatte mich längst dran gewöhnt.
Meine Eltern hatten mich angelogen, als ich sie fragte, ob sie vor meiner Geburt gefickt hätten. „Nein, haben wir nicht, aber jemandem, der so schmutzige Wörter in den Mund nimmt, dem muß man den Mund mit Seife auswaschen!“, hatte mein Vater gesagt. Und dann hatte der mir den Mund mit seiner großen, mit Warzen übersäeten Hand aufgesperrt und mir Schmierseife eingeflößt. Die Schmierseife, mit der meine Mutter zweimal die Woche das Treppenhaus in unserer Mietkaserne schrubbte. Es war billige Schmierseife, sie war ätzend und scharf und roch nicht etwa frisch, sondern wie Salzsäure. So hatte sie auch geschmeckt und ich hatte gerotzt und gespuckt, aber mein Vater fuhr mir mit seinen hornigen Fingern in den Mund, zwängte ihn auf und schüttete noch eine Ladung Schmierseife hinterher. Ich hatte mich auf den Boden geworfen und geröchelt und vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen können und irgendwie hatte ich wohl was von dem Zeug geschluckt und ich mußte kotzen und konnte nicht richtig, und meine Gedärme hatten angefangen zu glühen und irgendwas zerriß in mir drin, wie ein überspanntes Drahtseil, und schlug hin und her und zerfetzte meine Innereien. Und so lag ich da, sieben Jahre alt, in der Soße aus Erbrochenem und Spülseife und mein Vater stand breitbeinig über mir und sagte: „Wer so schmutzige Wörter benutzt, der darf sich nicht wundern. Deine Mutter und ich, wir machen sowas nicht, das merke dir ein für allemal!“
Und sie hatten gelogen. Denn ein paar Monate später kam ich früher nach Hause, als bei uns die Schule ausfiel, weil unsere Englischlehrerin von der Bahn überfahren worden war. Da hatte ich meine Eltern erwischt, wie sie fickten. Meine Mutter hatte auf der Wohnzimmercouch gelegen und ihre wabbeligen, weißen Beine hatten aus ihren altmodischen braun-ocker-karierten Röcken hervorgeragt wie Maden aus dem Holz alter Bäume, wenn man da die Rinde abriß. Dazwischen hatte mein arbeitsloser Vater gelegen, unrasiert, pumpend und grunzend.
„Was glotzt du so dämlich, was machst du überhaupt hier, fängst du jetzt schon an zu schwänzen?“, hatte mein Vater da gebrüllt und war von meiner Mutter runtergerollt, und auf den Teppich geplumpst. Dann hatte er aus seiner Hose, die dort neben ihm lag, den Gürtel rausgezogen und mir meine tägliche Portion verabreicht. Und zwischen den klatschenden Schlägen, die mal wieder rote Streifen auf meinem Rücken hinterließen, hatte sich mir meine erste wichtige Kindheitserfahrung eingebrannt: ich hatte verlogene, verfickte Eltern.
Später dann hatte ich gemerkt, daß alle so waren wie meine Alten. Alle logen und alle fickten und keiner wollte das zugeben, und die, die behaupteten, sie würden gerne und oft und viel und gut ficken, die waren die größten Lügner.
Die Frauen aber waren geschickter und raffinierter beim Lügen. Meine Mutter beispielsweise hatte mich damals, als mein Vater fertig mit mir war, beiseite genommen und zu mir gesagt: „Henry, das war nicht richtig, was du da deinem Vater angetan hast, er leidet genauso darunter, wenn er dich bestrafen muß, wie du. Er leidet sogar noch mehr darunter, denn eigentlich liebt er dich, und nur, weil er dich so sehr liebt, und weil er will, das ein guter Mensch aus dir wird, deswegen muß er dich schlagen. Und Henry – das, was du da eben gesehen hast, als du reinkamst, das... Das hast du nie gesehen, haben wir uns da verstanden? Das hast du nicht gesehen und deswegen wirst du es auch deinen Freunden nicht erzählen, klar? Sonst muß dein Vater dich noch viel strenger erziehen, obwohl er das gar nicht gern tut und obwohl er darunter so sehr leidet.“
So hatte meine Mutter gelogen und ich hatte genickt, mit zusammengebissenen Zähnen genickt, und durch einen Schleier auf meinen Augen hindurch hatte sie noch verschwommener als sonst ausgesehen. Diese Lektion hatte ich gelernt.
Am nächsten Tag in der Schule, wo wir jetzt eine frische Englischlehrerin hatten, da hatte ich zu meinem Kumpel Hardy gesagt: „Meine Eltern ficken noch immer. Aber nicht so wie deine, sondern anders. Mein Dad hat sein Ding meiner Mutter hinten reingesteckt, weil es vorne nicht reinpaßte. Und da hat er es drin stecken lassen und es war so groß und hart, daß er auf diesem Ding sozusagen schweben konnte. Er schwebte über meiner Mutter, freihändig, nur gestützt auf sein riesiges, hartes Ding, daß ihr hinten drin steckte, wie eine Art Doppeldecker. Und wenn ich mal groß bin, hat meine Mum gesagt, dann darf ich das auch mal probieren, dann kann ich das auch, weil es sind die Gene von meinem Dad in mir drin und mein Ding wird auch mal so groß und hart und gewaltig wie das von meinem Dad...“
„Du spinnst doch, das kann doch gar nicht sein!“, hatte Hardy gesagt.
„Und ob das sein kann! Ich lüge doch nicht!“
„Dann schwör auf die heilige Bibel und den Präsidenten, daß du die Wahrheit gesagt hast!“
Und so hatte ich also bei der Heiligen Bibel geschworen, daß mein Vater auf seinem Schwanz wie ein Doppeldecker über meiner Mutter geschwebt hatte und Hardy hatte mir geglaubt und mich beneidet und in der Pause mein laffes Erdnußbutterbrot gegen sein leckeres Sandwich mit Putenschnitzel getauscht. Weil man sich gut stellen mußte mit Leuten wie mir, die solche Gene in sich trugen.
Seither hatte ich alle Welt belogen, so, wie alle Welt mich belog. Und die Frauen logen raffinierter und auch komplizierter und das lag vielleicht daran, daß sie klüger waren oder einfach mehr Übung im Lügen hatten, keine Ahnung. Und jetzt hatte mich dieser Dreikäsehoch hier mit seiner Kiste unterm Arm belogen und es war mir sowas von egal. Was hätte ich denn mit seinen Schwestern anfangen sollen? Ich hatte Sally und Jaheira und meine treue rechte Hand, wenn mal Not am Mann war. Mir machte es nichts aus, daß man mich betrogen hatte. Im gegensätzlichen Fall wäre ich mißtrauisch geworden...
Aber Pali schien vor Reue zerknirscht und der Dürre neben ihm schien sich für seinen Kumpel zu schämen und guckte angestrengt auf seine Spinnenfinger, in welchen er die Kippe hielt. Der blaue Qualm, den er über sie hinwegblies, überlagerte ihre nikotingelbe Färbung, sodaß sie grün erschienen.
Der Zwerg, dem sein Kumpel ebenfalls peinlich war, bestellte noch ein weiteres Rattensandwich mit Ketchup und dann noch eins und noch eins. Er verschlang sie mit einer Geschwindigkeit, als müsse er für seinen dürren Kollegen mitessen. „Mitesser!“, dachte ich bei mir und grinste dümmlich in mich hinein, um dann ein weiteres Bier hinterherzuschütten.
Nach dem fünften Rattensandwich war Schluß und der Zwerg rülpste, weil er wohl hoffte, damit die Stimmung aufzuhellen, laut und vernehmlich.
„So!“, sagte er, „Das hat gut getan. Und nun würde es mich aber doch mal interessieren, was du da in deinem Paket drin hast, Pali! Was meinst du, Skull, was hat Pali da drin?“
„Na, ratet doch mal!“ Pali hatte wieder Oberwasser. „Da kommt ihr nie drauf!“
„So schwer kann es nicht sein, wenn dieser alte schwerhörige Lyriker das gleich beim ersten Versuch rausgekriegt hat!“
„Na dann – rate mal!“
„Hhm... Was meinst du, Skull, was könnte er da drin haben?“
„- - - „
„Naja Skull, du bist nicht immer eine wirkliche Hilfe. Okay, ich rate mal: Du hast da drin einen Mini-DVD-Player.“
„Falsch.“
„Dann sind es ein paar Ausgaben der CINEMA.“
„Wieder falsch, hehe!“
„Bin ich denn wenigstens nahe dran? Ich meine: äh – kalt oder heiß?!“
„Kalt wie ein Fisch!“
„Es hat nichts mit Filmen und Video zu tun?“
„Hehehe!“
„Och komm, du kannst ruhig mal einen kleinen Hinweis geben!“
„Hehehehehe!“
„Pali, du bist doof!“
„Nein, du bist doof, du kommst nicht drauf!“
„Och Mönsch... Du könntest ruhig mal... Skull, was meinst du, sollte er uns nicht mal einen winzig kleinen Tipp geben...?“
„ - - - „
„Hehehehehehehe!“
„Hank, wie wär’s, gib du mir doch mal nen Hinweis, wenigstens so die grobe Richtung!“
„Hhmm. Ich weiß nicht, ob das korrekt wäre. Das wäre ja sowas wie Schummeln, oder?“
„Aber es braucht ja nur ein ganz, ganz winziger Hinweis zu sein. Zum Beispiel: Hat es im entferntesten etwas mit Videos zu tun? Ich meine: im Allerallerallerallerentferntesten?“
„Nun, also, äh...“
Jemand tippte mir von hinten auf die Schulter. Sally.
„Hank, ich bin müde, ich geh jetzt hoch. Kommst du?“
Ich breitete bedauernd die Hände aus. „Tja, Jungs, tut mir leid, aber ich muß wohl mal. War nett, euch kennengelernt zu haben!“
Ich stieg von meinem Barhocker runter, legte zwei Fingerspitzen an die Stirn und nickte ihnen zu. Dem dünnen Schweigsamen, dem ketschupverschmierten Zwerg und dem Wettanfänger mit seiner Kiste. Dann griff die Schwerkraft nach mir und warf mich sanft hin und her, wie es immer so nach fünfzehn oder zwandzig Bier der Fall sein sein pflegte. Ich torkelte, wurde aber von ein paar hinter mir stehenden Tischen und einer Wand behutsam in die richtige Richtung geschubst, und dann heftete ich mich meiner lieben Sally an die Hinterlichter, die da so herrlich kurvig vor mir wogten und wippten, während sie vor mir die Treppe hochstieg.
Als wir in unserem Zimmer angelangt waren, zog Sally irritiert ihr Näschen kraus.
„Sag mal, hier riecht es aber irgendwie komisch, findest du nicht?“
„Nö, wieso?“
„Na, dieser Geruch, als wenn jemand... Sag mal, Hank, hast du dir hier vorhin einen abgehobelt?“
Ich wankte auf sie zu, und umfing sie mit meinen starken Armen. „Sally-Babe, wie kommst du denn auf so eine Idee? Wer sowas wie dich hat, der wäre doch schön doof, sich selbst den Saft abzudrehen, oder?“
„Hhm... Naja, da ist was dran, Hank. Also los, dann zeig mir mal, wie gut du im Saft stehst!“
Sie zog mich lasziv in Richtung des Bettes. Dabei kamen wir gemeinsam ins Stolpern und wahrscheinlich riß sie mich durch ihr Gewicht mit um, und so landeten wir beide auf den Bodendiehlen.
„Hank, du bist ja stockbesoffen!“
„Hmpf?!“
„Hank, du zerquetschst mich ja!“
Das war das Letzte, was ich an diesem Abend hörte. Falls ich es noch hörte. Wahrscheinlich war ich schon vorher eingeschlafen.


„Aufstehen! AUFSTEHEN!!“
Jemand machte sich mit einer Brechstange an meinen Augenlidern zu schaffen. Es war das fahle Morgenlicht, welches sich rücksichtslos durch das Fenster Bahn brach, nachdem Sally eben gerade die Vorhänge beiseite geschoben hatte.
„Los, Hank, du nasser Sack, krieg deinen Hintern hoch, wir müssen los!“
Ich lag da, wo Sally mich am Abend vorher von sich heruntergewälzt hatte, also auf dem kalten Holzfußboden. Alle zweihunderdreiundsiebzig Knochen im Leib taten mir weh. Ein riesiger, schmutziggrauer Kater hatte seine Krallen ausgefahren und ratschte damit an der Innenseite meines Schädels entlang. Mit einem Geräusch, als würde er das auf einer Schiefertafel tun. Ich hatte heftigen Durst. Und mußte dringend shiffen. Und wollte doch lieber liegenbleiben, das schien mir am sichersten.
Sally trillerte so vor sich hin. Sie ging hier hin, sie ging da hin.  Packte ihre Sachen. Ihre Sachen? Was sollte das? Wo wollte sie hin?
„Sally, was ist los, verdammte Puddingsoße? Was machst du  für eine Thermik?“
„Wir müssen gleich los. Sind für halb sieben unten im Schankraum mit den anderen verabredet.“
„Verabredet? Mit wem? Und was bitte soll das für eine Uhrzeit sein: halb sieben?! Sowas gibt's nicht, und keinesfalls vormittags!“
„Stöhn nicht rum, sondern sieh zu, daß du endlich deine eigenen Siebensachen zusammgegepult bekommst. Die anderen warten auf uns.“
„WELCHE ANDEREN? WAS WIRD HIER GESPIELT?“
„Ah, so langsam wird mein Schatzilein also wach, wie? Anstatt zu brüllen solltest du dir vielleicht lieber mal die Zähne putzen, du stinkst nämlich aus dem Mund!“
Ich träumte sicherlich noch. Kein Mensch stand morgens um vor halb sieben auf. Das war nicht eingeplant. Davon hatte man mir bei meiner Geburt nichts gesagt. Aber Sally schien es ernst zu meinen. Sie ging rüber ins Bad und ich hörte sie weiter trällern, während sie sich ihre Haare kämmte. Diese unglaublichen, rotgoldenen, kilometerlangen Haare, mit denen sie auf jeder Kreuzung den Verkehr lahm legen konnte.
„Sally, jetzt sei doch mal vernünftig!“, krächzte ich, während ich versuchte, mich langsam von der liegenden in eine sitzende Position zu bringen. „Ihr könnt unmöglich vereinbart haben, zu nachtschlafender Zeit euch zu treffen um – um... Äh, warum wollt ihr euch überhaupt treffen? Und warum packst du? Es ist doch schön hier.“
Sie kam aus dem Badezimmer zurück. Wie aus dem Ei gepellt. Eine rothaarige Morgengöttin, eine eigene Art Sonnenaufgang, eine schrecklichschöne Naturgewalt. Sie setzte sich auf das Bett und schaute auf mich herunter.
„Also nochmal zum Mitschreiben: Wir werden uns gleich mit den anderen treffen, mit Moni, Bayan, Khalid und Jaheira. Und dann werden wir losziehen nach Nashkell.“
„Nashkell? Was soll das denn sein? Wo liegt das, wozu ist das gut?“
„Nashkell, das ist dieser Bergarbeiterort im Süden.“
„Aber was, verflixt nochmal, haben wir da denn verloren?“
„Wir müssen herausfinden, was das mit der Eisenkrise auf sich hat.“
„Eisenkrise? Was für eine Eisenkrise?“
„Mensch Hank, wenn du dich mal von etwas anderem als von Bier ernähren würdest, hättest Du schon längst mitgekriegt, daß das Eisen hierzulande Schrott ist. Es gibt kein vernünftiges Eisen mehr, wenn man versucht, eine Hühnerbrühe zu essen, bricht der Löffel schon beim Umrühren ab.“
„Hühnerbrühe? Löffel ab? Sag mal, Sally, bist du dir sicher, daß es dir gut geht?“
„Ja mein Schatz!“ Sie stand auf, machte sich an ihrer Reisetasche zu schaffen. „Mir geht es sehr gut. Ich habe gestern abends einen gesunden Salat gegessen und Mineralwasser getrunken und eine lange, interessante politische Diskussion mit meinen Freunden gehabt. Während jemand anderer sich sinnlos besaufen mußte und nun nicht weiß, was in der Zeitung steht.“
„Man kann sich nicht sinnlos besaufen!“, protestierte ich, aber es war ein matter Protest.
Sie guckte mich an. Auf diese bestimmte Art...
„Okay, also gut, ich habe mich sinnlos besoffen. Aber nun sag mir doch bitte genau, was dieser Trubel jetzt soll. Ich versteht immer nur Eisenkrise. Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Wenn du ne Eisenkrise hast, dann iß mehr Spinat oder nimm Tabletten...“
Sie seufzte: „Hank, es gibt eine wirtschaftliche Eisenkrise. Die gesamte Schwertküste ist davon betroffen. Und obendrein ist da die Sache mit dem Attentat auf den großen Deumel in Baldurs Tor. Das kann kein Zufall sein. Da ist eine Verbindung. Die Welt ist bedroht. Man muß etwas unternehmen.“
„Was bitteschön wollt ihr denn da unternehmen?“
„Naja, das Übliche eben. Anhaltspunkte sammeln. Die Bösen jagen. Das Komplott aufdecken. Die Welt muß gerettet werden.“
„Da bin ich skeptisch. Warum sollte sie gerettet werden?  So früh am Morgen? Warum sollen ausgerechnet wir das besorgen? Solche Jobs sollte man Profis überlassen.“
„Irgendjemand muß es tun, oder? Und wir sind schon involviert. Denk dran, was mit Gorion passiert ist.“
„Jaja, ich kann mich genau erinnern. Durfte ihn mit bloßen Händen verscharren und hab mir dabei die Fingernägel gebrochen und nicht nur das!“
Sally verdrehte die Augen und seufzte erneut. Dann zurrte sie den Verschluß ihrer Tasche fest und ging zur Tür. „Okay, wir warten unten auf dich. Du hast ‚ne Viertelstunde. Wenn du bis dahin nicht unten bist, ziehen wir ohne dich los. Aber glaub bloß nicht, daß Jaheiras Schwager dir dann noch einen Schluck Wasser kostenlos überläßt. Es ist deine Entscheidung!“

Vierzehn Minuten später humpelte ich die Treppe runter in den Schankraum. Mein Kopf dröhnte. Meine Beine bestanden aus Latex. Meine linke Schulter, auf der ich geschlafen hatte, war immer noch gefühllos und der Arm hing schlaff wie eine Wurst an meiner Seite herab. Aber ich war im Zeitplan. Meinen Rucksack zerrte ich hinter mir her die Stufen runter. Plop, plop, plop!
Die anderen saßen schon unten um einen Tisch und frühstückten. Ich roch gebratene Eier und frischen Kaffee und aufgebackene Brötchen. Ein Würgen stieg in meiner Kehle auf, ich lief stumm an ihrem Tisch vorbei, erreichte die Haupttür, machte einen Satz nach draußen und kotzte auf die große Eingangstreppe. Danach ging's mir besser und ich hatte Hunger.
Nachdem ich mir die letzten Schleimbröckchen aus den Mundwinkeln gewischt hatte, ging ich rein, frühstücken. Doch die anderen waren schon fertig und Jaheiras Schwager räumte den Tisch ab. Gerade, als ich mich hingesetzt hatte, standen die anderen auf.
„Los geht’s!“, sagte Babydoll Moni fröhlich und tätschelte einen Riesenvorschlaghammer, den sie immer mit sich herumschleppte.
„Ja, es wird Zeit!“, sagte Bayan.
„W-w-wer ra-ra-rastet, d-d-d...“
„... der rostet!“, ergänzte Jaheira ihren Liebhaber.
„Also auf in’s Vergnügen!“, schloß Sally und warf sich schwungvoll ihre Reisetasche um. „Hanky-Babe, bist du soweit?“
Ich war so müde...

An dem dunkeln, hinteren Ende der Theke saßen die drei seltsamen Typen vom Vorabend. Der Kopf den Dürren lag in einem riesigen, überquellenden Aschenbecher. Er schien zu schlafen. Der Typ mit dem Paket stierte glasig vor sich hin. Unter seinem Barhocker lag ein Haufen ausgequetschter Zitronenschalen. Der Zwerg neben ihm ließ nicht locker. Er zerrte und zwirbelte in seinem Bart. Ich hörte ihn nuscheln: „Vielleicht ein Gesundheitsball, aus dem die Luft raus ist? Nein?“
Pali schüttelte den Kopf und kicherte schwachsinnig in sich hinein. „Hihihihihihihi...“
„Eine Kronkorkensammlung aus Mexiko?“
„Nö, hihihihihihihi....“
„Die Memoiren eines vegetarischen Massenmörders?!“
„Gngngnhihihihihihi...“
„Hey Jungs!“, rief ich zu den dreien rüber. „Wir machen uns hier vom Acker! Laß euch nicht hängen!“ Keiner der drei achtete auf mich. Der Dürre wirbelte beim gleichmäßigen Ausatmen kleine Aschewölkchen auf. Ich fragte mich, ob es nicht verrückter war, morgens um halb sieben die Welt retten zu gehen als in einem vollen Aschenbecher seinen Schönheitsschlaf zu machen. Dann trottete ich den anderen hinterher.


Wir gingen zu Fuß. Es gab keine Busse, keine Taxis, keine Vorstadtbimmelbahn. Nichts. Kein verschissener Heuwagen mit Ochsen vorne dran war unterwegs, bei dem wir Anhalter hätten spielen können. Die Straße war leer. Normale Menschen waren um diese Zeit nicht unterwegs. Es war neblig, es nieselte, und der Weg bestand größtenteils aus Schlaglöchern und Pfützen. Man mußte quasi von Stein zu Stein hüpfen. Diese Steine waren naß und man rutschte immer wieder aus. Nach nicht mal eine Stunde war ich von oben bis unten durchnäßt, dreimal auf die Schnauze geflogen und hatte mir dabei das rechte Knie angeknackst. Den anderen schien das Wetter nichts auszumachen.
„Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsch angezogene Leute!“, hatte Moni gesagt, die sich einen gelben Ölmantel über ihren Panzer gezogen hatte.
Alle hatten Regenjacken dabei. Nur ich nicht. Sally hatte mir mal eine geschenkt, aber die hing im Schrank im Freundlichen Arm. Ich fluchte vor mich hin, während ich mich zum vierten Male lang legte. Mitten in eine besonders große, schlammige Pfütze. Ich überlegte, ob ich nicht liegenbleiben und das Ende dieses Albtraums abwarten sollte. Da hörte ich ein Grunzen. Ich hob den Kopf und starrte durch den Nebel. Die anderen waren stehengeblieben und starrten ebenfalls.
„Ein Oger!“, flüstert Bayan.
„Ein Oger? Bist du dir sicher?“, wollte Jaheira wissen.
„Garantiert.“
„Was machen wir jetzt?“, fragte Sally, ebenfalls flüsternd.
„Den machen wir kalt.“
„Was ist los?!“, fragte ich, und drückte mich aus der Pfütze hoch. „Du willst einen fremden Menschen einfach so umbringen?“
Bayan sah mich aus seinen violetten Augen verächtlich an. „Na sicher! Nur ein toter Oger ist ein guter Oger!“
„Das ist doch Wahnsinn, man kann doch nicht andere Leute nur ihrer Rasse wegen töten!“
„Oger verdienen es nicht, zu leben. Das sind keine Menschen, das sind Monster!“
Bayan war offensichtlich wahnsinnig, in ihm schien ein unkontrollierbarer Rassenhaß zu stecken. Ich mußte ein Unglück verhindern. Es galt zu handeln. Jetzt.
Ich sprintete los in Richtung des Grunzens und schrie dabei: „Hallo, hallo! Achtung, Herr Oger, passen Sie auf, Sie befinden sich in großer Gefahr man trachtet nach Ihrem Leben!“
Ich gewahrte eine Silhouette im Grau des Nebels. Sie kam näher. Sie wurde größer. Und größer. Und noch größer. Und ich hörte erneut ein Grunzen. Eine gurgelnde Stimme gröhlte: „Stirb, du quietschende Ratte!“
Die Silhouette nahm langsam Konturen an. Sie ragte so um die drei Meter empor. Grob geschätzt eine dreiviertel Tonne. Der Typ, dieser Oger, trug eine unbehandelte Baulatte in der Hand. Er war kahlköpfig und, soweit sein Körper nicht von einer nietenbesetzten Ledermontur verdeckt wurde, von oben bis unten tätowiert. Es waren Totenköpfe zu sehen und Adler, die mit Schlangen kämpften. Auf seinem rechten Oberarm war ein rotes Herz eingraviert, das von einem Pfeil durchbohrt wurde. Darunter stand: Love Mammi.
Auf der Stirn war ebenfalls ein Spruch eingeschrieben: Die welt ist scheitze, ich hase euch alle!
"Der Kerl muß eine harte Kindheit hinter sich haben", dachte ich noch, während die Dachlatte in den Händen des Ogers auf mich zukam. Zum Glück rutschte ich aus und sie zischte pfeifend über mich hinweg. Vielleicht war meine Taktik, offen auf die Leute zuzugehen, in vorliegenden Fall nicht die idealste Wahl gewesen. Der Tätowierte holte erneut aus. Ich sah seine verfaulten Zähne, als er, hocherfreut, mich vor ihm in einer Pfütze liegen zu sehen, breit grinste. Es waren wirklich sehr schlechte Zähne. Er roch aus dem Mund, das konnte ich selbst auf diese Distanz riechen. Schade, dachte ich, schade, daß es so schnell vorbei ist. Ich hätte mir schöneres Wetter zum Schluß gewünscht.
Dann krachte es. Die schlechten Zähne über mir verschwanden und wurden durch Monis Vorschlaghammer ersetzt. Sie hatte das Ding geworfen!
Ein Pfeil durchbohrte das Herz auf dem Oberarm des Ogers. Schneller, als ich hätte blinzeln können, folgten zwei weitere Pfeile, die sich dem Kerl in die Augen bohrten. Er ließ die Dachlatte fallen. Vielleicht wollte er etwas zur Sache äussern, aber ohne Unterkiefer bestanden gewisse anatomische Hindernisse. Bayan schickte drei, vier, fünf weitere Pfeile, die sich dem Riesen in den Hals bohrten. Er wankte. Wie in Zeitlupe. Das ist in Filmen auch immer so. Er fiel. Ratet mal, auf wen...

Montag, April 07, 2014

Verdächtige Bombelbeeren und eine Wette







Der Kneipenbesitzer war ein Schwager von Jaheira und deshalb konnten wir alle frei essen und trinken. Ich fand’s sehr gemütlich hier.
Als ich zurück zum Tisch kam, fiel mir gleich die deutlich negativere Stimmung auf.
„Hank, findest du nicht, du solltest dich mit dem Saufen etwas zurückhalten?!“, fragte Sally.
„Yeah, Baby, werd’ mal einen Gang runterschalten.“, sagte ich und nahm nur einen ganz kleinen Schluck.
Die anderen in der Runde schwiegen. Mir war das eigentlich nicht unangenehm. Im Schweigen war ich ein echter Champ, da konnte mir keiner so schnell das Wasser reichen. Also schwieg ich, trank in kleinen Schlucken und probierte die Brechungswirkung des Bierglases aus. Wenn ich es links vor mich hinstellte, konnte ich darin seitenverkehrt Jaheiras Titten sehen, ohne in ihre Richtung starren zu müssen. Allerdings war die Spiegelung ziemlich klein, gelblich gefärbt und außerdem war da ja das Kettenhemd über den Dingern drüber. Na, man kann nicht alles haben.
An den Nachbartischen wurde gegröhlt und gesungen. Man konnte die Gespräche mithören. Zum Beispiel an dem Tisch rechts von uns.
„...Und wenn ich dann von der Arbeit nach Hause komme, dann ficke ich meine Frau, weißt du?“
„Ja Mann, gib’s ihr!“
„Echt, ich red keinen Scheiß: Wenn ich da so nach Hause komme, da pfeffer ich meine Stiefel in die Ecke und greif mir meine Frau, und dann besorg ich’s ihr!“
„Ja, voll cool...“
„Nee, wirklich! Ich mein – ich sag das nicht nur so, ich mach das auch! Ich geh nach Hause und fick meine Frau.“
„Ja, geil, ey!“
„Ich frag nicht erst: was gibt’s zu Essen oder so’n Müll, ich frag auch nicht, was sie den Tag über gemacht hat oder wo die Kinder sind oder wie sie sich fühlt oder ob das Haushaltsgeld reicht oder weiß der Geier was. Ich nehm sie mir vor und zieh ihr die Klamotten aus und dann fick ich sie, jawoll!“
„Höhöhö! Jau, immer rauf auf die Alte!“
„Weißt du, wenn ich nach Hause komme von der Arbeit, dann fick ich meine Alte, aber so richtig!“
„Yep...“
„Und auch wenn sie nicht will – da frag ich gar nicht lange. Ich komm nach Hause und dann...“
„... fickst du erstmal deine Frau...“
„Ja, genau, weißt du, das mach ich immer so, ich komm nach Hause und...“

Am Tisch links wurde über Sport geredet.
„Wenn der Blödmann nicht die linke Ecke zugemacht hätte, dann hätte ihn Weißbrotsen auch nicht so locker versetzen können. Die hätten doch den Rückstand nie mehr aufgeholt!“
„Ach was, Weißbrotsen hat es einfach drauf, so ist das! Daß ihr vorne lagt, das war doch pures Glück! Pures Glück war das!“
„Wieso Glück, hä? Unsere Jungs haben doch die ersten beiden Dinger ganz systematisch vorbereitet! Das hat was mit Strategie zu tun, verstehste?“
„Hahaha, Strategie, daß ich nicht lache! Was soll das denn für’ne Strategie sein, wenn man zuerst in Führung liegt und sich nachher so ablatzen läßt?“
„Da war der Schiri dran schuld, ist doch klar!“
„Ach, nu is der Schiri schuld, oder was?“
„Ja logo! Ich mein – der Freistoß in der siebzigsten, der war doch wohl eindeutig nicht korrekt, oder?“
„Ja wie – nicht korrekt?! Der hat doch voll sein Bein stehen lassen, das war volle Absicht! Sowas muß man pfeifen!“
„Quatsch, sowas muß man überhaupt nicht pfeifen. Das war’ne Schwalbe war das! Sieht doch'n Blinder mit Krückstock. So eine Memme! Nur weil der sich hingeschmissen und eins auf Heulsuse gemacht hat!“
„Ja und? Außerdem – ist ja auch egal, oder? Der Freistoß hat doch eh keine Folgen gehabt, ich weiß gar nicht, was du willst!“
„Ich mein ja nur. Das war ja nur’n Beispiel, daß der Schiri eben parteilich war.“
„Das heißt parteiisch!“
„Mein ich doch! Ich doch auch egal, ob parteilich oder pardingsbums. Es geht um den Sachverhalt!“
„Sachverhalt ist, daß ihr voll abgeloost habt!“
„Aber wenn unser Keeper nicht dummerweise die linke Ecke zugemacht hätte...“

Ich saß da, hörte zu und trank in kleinen Schlucken. Bei uns am Tisch war dicke Luft. Ich guckte mal kurz von meinem Glas auf. Moni fummelte an ihrem Bart rum. Bayan hatte die Arme verschränkt, sich nach hinten gelehnt und fixierte einen Punkt jenseits des Horizontes.
Jaheira rührte in einem Becher, der inzwischen längst kalten Kräutertee mit Rum enthielt. Sie rührte ziemlich entschlossen. Das Geräusch des Löffels in diesem Steingutbecher machte einen ganz kirre. Khalid saß neben ihr und glotzte sie an, wie Cockerspaniel ihre Frauchen anzuglotzen pflegen. Fehlte nur noch, daß er die Zunge raushängen ließ. Ich guckte nach links, wo Sally saß. Meine Sally, mein Zuckerbaby, die Meisterdiebin mit den phänomenalen Innenkurven. Sie hatte die Arme ebenfalls verschränkt und trippelte mit den Fingern der rechten Hand auf ihrem linken Oberarm. Sie guckte an die gegenüberliegende Wand, als wolle sie die mit ihrem Blick umwerfen.
Irgendetwas schien ich verpaßt zu haben. Es war mir egal. Hier hatte ich meinen Hintern im Warmen, ein kühles Bier vor mir und war ganz relaxed. Von mir aus konnten wir den ganzen Abend weiter schweigen.
Khalid war da etwas anders drauf.
„J-j-j-ja so is das in d-d-der Welt!“
„Was willst du damit andeuten, Humpelzunge?!“ Bayan hatte den Fixpunkt seines Blickes aus dem Jenseits blitzartig auf Khalid umgeschaltet.
„Jetzt laß Khaldi in Ruhe! Er will überhaupt nichts andeuten!“, sagte Jaheira, „Keiner hier von uns will irgendwas andeuten! Aber es ist doch komisch, wie du immer gleich alles auf dich beziehst...“
„Wie – auf mich beziehen? Ja, was denn auf mich beziehen? Ich bin Bayan da‘i Baiornne, aus dem vergessenen achten Hause von...“
„Jajajaja! Ihr Drow seid doch alle gleich! Harhar, aus dem vergessenen achten Hause von! Genau das ist die Einstellung, die dazu geführt hat, sag ich euch, genau diese Einstellung, diese intolerante Arroganz, dieses Gefühl, was Besseres zu sein, die hat zu der ganzen Sache geführt!“, mischte sich Babydoll Moni ein. Sie war scheinbar fertig mit ihrer Bartinspektion.
„Ich habe mit diesen Leuten nichts zu tun. Das ist eine rassistische Unterstellung!“
„Ach nee?! Aber du verteidigst sie doch die ganze Zeit! Du hast gesagt, man muß sie verstehen, da gibt es politische Gründe, da gibt es eine Vorgeschichte, die Regierung von Baldurs Tor soll sich mal an die eigene Nase fassen! Das hast du doch gesagt!“
„Ja und, das stimmt doch auch! Die Baldurianer sind rücksichtslos in ihrer Politik! Sie haben sich mit den Elfen verbündet und gehen rücksichtslos gegen die Gnolle und Orks in den besetzten Gebieten vor!“
„Ha, wußte ich’s doch, daß du ein verkappter Antielfist bist!“, rief Jaheira. „Ihr Drow habt da eine fixe Idee. Immer, wenn etwas nicht nach euren Vorstellungen läuft, sind die Elfen schuld!“
„Hab ich das behauptet? Das ist eine Unterstellung! Wir Drow sind normalerweise ein friedliebendes Volk, nur werden wir immer wieder von den Menschen und den Elfen provoziert!“
„Ein friedliebendes Volk! Ein friedliebendes Volk!“, kreischte Moni. „DASS ICH NICHT LACHE!!! Ihr seid so friedliebend, wie eure Göttin Lhoth, dieses Spinnenvieh, das mit Menschen- und Elfenopfern befriedigt werden muß.“
„Nicht alle Drow beten zu Lhoth! Viele von uns beten wie ich zu Shar, der Göttin der Nacht.“
„Das sind doch alles Ausreden. Ausreden, sag ich! Wenn es nach uns Zwergen ginge, hätte man längst alle Drow aus Faerun verjagt. Aber uns Zwerge fragt ja niemand.“
„Weil ihr normalerweise auch keine so vernünftigen Vorschläge macht.“, meinte Jaheira.
„Was soll das denn nun schon wieder heißen? Fällst du mir jetzt in den Rücken, oder was? Typisch Elfin, kann ich nur sagen! Heimlich sympathisiert ihr immer noch mit den Drow, ihr seid ja sogar rassisch mit denen verwandt!“
„Das ist eine infame Verleumdung! Wie kommst du dazu, hier mit deinen rassistischen Äußerungen die Athmosphäre zu vergiften?! Ihr Zwerge seid doch vom Wesen her viel verwandter mit den Drow, immerhin lebt ihr normalerweise auch wie die Maden unter den Bergen.“
„Wie die Maden? WIE DIE MADEN? Dieser Dame hier sollte man vielleicht mal ihr Kettenhemd ein wenig stramm ziehen! Niemand beleidigt ungestraft das ruhmreiche Geschlecht der Zwerge!“
„Ruhmreiches Geschlecht - das ist mal ein guter Witz!“, zischte Bayan. „Gleich zwei Begriffe, die mit Zwergen nun nicht das geringste zu tun haben.“
„WENN DU DAS NOCHEINMAL SAGST, RAMME ICH DIR MEINEN KRIEGSHAMMER ZWISCHEN DEINE SCHLITZSPITZOHREN!!!“
„Leute, Leute!“, versuchte Sally, meine zuckersüße Sallyschnecke, die Situation zu entspannen, „Beruhigt euch doch wieder! Ich bin mir sicher, daß niemand hier am Tisch irgendwelche Sympathien mit den Attentätern empfindet. Am allerwenigsten wohl Bayan. Immerhin ist er ein Mann und die Männer werden bei den Drow unterdrückt, wie wir alle wissen. Die Drowmännchen müssen hinter ihren Frauen hinterherlaufen, dürfen tagsüber nicht allein aus dem Haus und nachts schon erst gar nicht, in Gegenwart einer Drow-Frau dürfen Drowmänner nicht reden... Da sind wir in unserer Gesellschaft bei den Menschen schon viel weiter, wir würden niemals unsere Männer wie Haustiere behandeln...“
„Will’s hoffen, Baby, will’s hoffen!“, warf ich ein.
„Ach Hank, wenn du nix Konstruktives beizutragen hast, mach den Kopp zu!“
„Aah – yeah...“
Ich trank in kleinen Schlucken.
„So generell kann man das nicht sagen, wir haben nur bestimmte kulturelle Traditionen...“, wollte Bayan korrigieren, doch Sally ließ ihn nicht ausreden.
„Bayan ist aus seiner Stadt geflohen, sein Haus wurde von den Radikalen unter den Drow vernichtet. Er ist ein politischer Flüchtling und es wäre nun unfair, ihm solche Verbrechen zur Last zu legen, die ultraorthodoxe Drow im Namen ihrer Spinnengöttig begehen.“
„Es ist immer noch nicht hundertprozentig bewiesen, daß es Drow waren! Woher soll man das denn bitteschön wissen, wenn doch alle Passagiere des Drachen anhiliert wurden bei dem tragischen Unfall?“
„Tragischer Unfall! TRAGISCHER UNFALL! Das ist typisch, so kann nur ein Drow reden!“, grummelte Moni.
„Jetzt halte dich bitte mal einen Moment zurück, Moni, okay?“, meinte Jaheira, „Und was den tragischen Unfall angeht, Bayan, so solltest du hier nicht auf zynische Weise verharmlosen. Das war ein gezielter Anschlag. Und es kann sich nur um Drow gehandelt haben, denn es standen lediglich zwei Elben und ein Menschenmädchen auf der Passagierliste. Du glaubst doch wohl selbst nicht, daß ein Mädchen und zwei Elben einen Drachen in ihre Gewalt bringen können, der ansonsten bis auf den letzten Sitzplatz mit Drow belegt ist? Man hat in den Trümmern Bombelbeeren, weiße Bohnen und Teppichmesser gefunden. Damit ist der Tatvorhergang doch wohl ziemlich lückenlos bewiesen, will ich mal annehmen.“
„D-d-das hast du schön ge-ge-ge-gesagt!“, trug Khalid seinen Teil zur Unterhaltung bei.
„Ja, Khalid, ist schon recht!“, meinte Jaheira und tätschelte sein Bein, ohne ihn anzusehen.
Mir wurde das Gespräch zu öde. Politik war nicht meine Sache.
„Kinders, ich bin müde und geh schon mal vor in die Heia.“, log ich und stand auf, „Kommst Du bald nach, Sally?!“
„Später vielleicht. Im Moment sind wir gerade so schön im Gespräch...“
„Na, dann laßt euch mal nicht weiter stören.“
Ich ging hoch zu den Schlafräumen, die uns Jaheiras Schwager zugeteilt hatte. Ich hatte ein Zimmer mit Sally zusammen. Ziemlich klein, aber sauber und warm und mit einem riesigen Doppelbett. Ich hängte das Schild „Bitte nicht stören!“ draußen an den Türknauf und schloß sicherheitshalber von innen ab. Nachdem ich die Schuhe abgestreift hatte, zog ich mir die Hose aus, legte mich auf das Riesenbett, spuckte in die Hand und fing an zu wichsen. Dabei dachte ich an Jaheira, an ihre spektakulären Beine, an ihr ultrakurzes Kettenhemd, an ihren Apfelbusen, der mitunter im Kettenhemd auf verbotene Weise hin und her wogte. Ich stellte mir vor, wie ich ihr dieses Kettenhemd runterriß, wie ich in jede Hand eine dieser Titten nahm und daran herumknetete. Ich malte mir bildlich aus, wie sie sich so ein bißchen sträubte und wehrte und wie ich ihr diese endlosen Beine auseinanderquetschte und mein Ding dazwischen reinsteckte und pumpte, pumpte, pumpte. Ob sie dabei wohl rumquietschte wie ein kleines Ferkel, oder ob sie auf die coole Tour rumstöhnte, so ganz tief aus dem Bauch heraus? Ich rubbelte und rubbelte und kriegte bald nen Krampf im Handgelenk. Aber ich konnte einfach nicht kommen. Es ging nicht. Irgendwas fehlte. Hatte ich ein schlechtes Gewissen?
Ich dachte an Sally. An meine Zuckerschnecke. An ihren Pfirsichduft, an die Art, wie sich ihre roten Locken auf meiner nackten Schulter anfühlten, an die Art, wie sie leicht zwischen den Zähnen flötete, wenn sie kurz davor stand, wie sie mit der Hüfte hin und her drehte, wenn sie mich ritt.
Prompt spritzte ich ab. So war ich nun mal: monogam selbst noch beim Masturbieren. Ich stand auf, ging rüber ins Bad und wusch das weiße Zeug runter, das mir bis auf die Brust gekleckert war. Dann trocknete ich mich ab und schaute in den Spiegel. Hank, du alter, dreckiger, romantischer Mistkerl, dachte ich.
Ich ging wieder rüber ins Schlafzimmer und legte mich auf’s Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ich starrte an die Decke und wartete auf Sally. Sally, die ich irgendwie liebte. Man hörte Gerede und Gelächter aus dem Schankraum heraufklingen. Das erinnerte mich daran, daß ich heute nur zwei oder drei kleine Bier getrunken hatte. An der Decke krabbelte eine nervöse Fliege hin und her. Dann ließ sie sich fallen, drehte ein paar Runden, landete auf dem Fenstervorhang und krabbelte nervös hoch und runter. Sie kratzte sich wie ein Hund mit dem Bein hinterm Ohr. Dann guckte sie eine Weile verdutzt und startete wieder, um noch ein paar Runden zu drehen. Was für eine Zeitverschwendung! Fliegen sollten sich lieber etwas beeilen, wenn sie’s im Leben zu was bringen wollten. Schließlich war es kürzer als das der meisten Leute. Diese Flieg würde keine großartige Karriere machen, soviel stand mal fest. Na und? Ich würde auch keine großartige Karriere mehr machen. Ich würde so herumliegen, mich regelmäßig besaufen, mir mit dem Fuß hinter den Ohren kratzen, das eine oder andere Gedicht schreiben und das war’s dann. Wir hatten viel gemeinsam, die Fliege und ich.
Jetzt flog sie eine elegante Achterschleife und landete dann auf meinem Bauch. Sie krabbelte runter zu meinen Sackhaaren, die noch nicht ganz trocken waren und fing an, dort mit ihrem Rüssel irgendwas zu saugen. Ich schlug sie tot.

Danach stand ich auf, zog mich an, schloß die Tür auf, nahm das Schild vom Knauf und ging schließlich nach unten. Ich setzte mich am Thresen auf einen Barhocker.
„Na, Hank?“, fragte der Schwager von Jaheira und schob mir ein Bier rüber, „Ich dachte, du wolltest schon knacken gehen?“
„Hhmm. Hab’s mir anders überlegt. Die Arschgesichter hier unten machen so einen Höllenlärm, da kriegt man kein Auge zu.“
Einige der Arschgesichter entlang der Theke schauten mich aus den Augenwinkeln an.
„Hör mal, ich will hier keinen Ärger, okay?“, warnte mich Jaheiras Schwager.
„Allright, ich auch nicht.“, murmelte ich. Die Arschgesichter wendeten sich wieder ihren öden Gesprächen zu. Ich konzentrierte mich auf’s Trinken. Manchmal guckte ich rüber zu dem Tisch, wo Sally mit den anderen saß. Sie redeten und redeten. Irgendwann würde das riesige Faß, in dem alle Wörter dieser Welt hin und her schwappen, leergeredet sein. Die Leute würden an seinem Boden entlangkriechen und verzweifelt nach ein paar übriggebliebenen Wörtern schürfen, sie würden die letzten Silben mit abgestumpften Messern von den Planken kratzen und rufen:“Hey, hier ist noch eine!“ Und dann weiterkriechen und kratzen und schließlich ganz verstummen. Und die Welt würde still sein, dunkel und kalt, und das wäre dann das Ende, die vollkommene Entropie, das hallende Schweigen.
Sally saß da, ich sah sie von hinten, manchmal fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare oder zupfte ihren Pullover hinten runter über ihren phänomenalen Arsch. Wie ich sie liebte! Mir wurde ganz warm um’s Herz dabei. Jaheiras Schwager schob mir das siebte oder achte Bier rüber.
Jetzt ging die Eingangstür zur Schenke auf und drei komische Typen kamen rein. Ein ellenlanger Typ mit Wuschelhaaren Marke Biafra-Kind. Ein dickbäuchiger Knirps mit einem Hörnerhelm auf dem Kopf und einen riesigen Hammer hinter sich herschleifend. Ein Milchbubi mit Schmalztolle und einem Kasten unter dem Arm. Sie kamen rüber zur Theke und setzten sich links neben mich.
„Einen Tequila!“, sagte der Milchbubi zu Jaheiras Schwager.
„Ein Rattenbrötchen mit Ketchup für mich.“, bestellte der Knirps mit dem Bauch.
„Nichts!“ sagte der dürre Kerl. Als ich ihn erstaunt anschaute, erklärte er: „Ich bin auf Diät. Habe zuviel Speck angesetzt in letzter Zeit!“ Er griff sich zur Verdeutlichung an den Hals. „Siehste?! Hier – alles schwabbeliges Fett!“ Trockene, pergamentartige Haut knisterte zwischen seinen spitzen Fingerspitzen.
„Oder wartet einmal!“, unterbrach er sich selbst, zu Jaheiras Schwager gewandt, „Habt Ihr vielleicht Zigaretten? Roth Händle? Ja? Okay, davon hätt ich gern ein Päckchen bitte! Rauchen macht ja nicht dick, oder?!“
Seine beiden Kumpel glotzten ihn an wie eine Erscheinung.
„Hey, Skull, alter Junge, was ist mir dir los? Woher dieser plötzliche Anfall von Geschwätzigkeit? Soviel hast du in den letzten drei Wochen nicht mehr an einem Stück geredet! Fühlst du dich wohl?“, wollte der Milchbub wissen.
„Ja, Mann, bist du dir sicher, daß alles in Ordnung ist mit dir?“, erkundigte sich der dicke Knirps.
Der, den sie Skull nannten, drehte sich zu ihnen um und zog die rechte Augenbraue hoch. Es gab ein trockenes Geräusch, als die Haut am Schädelknochen entlangschabte.
„Mhm?!“, machte er.
„Na, dann bin ich ja beruhigt, war wohl nur ein vorübergehender Anfall.“, sagte der mit der Schmalztolle. Er knallte den Kasten, den er unter dem Arm getragen hatte, drängelnd auf den Thresen. „So – und was ist jetzt? Krieg ich endlich meinen Tequila oder was?!“
Jaheiras Schwager deutete mit dem Daumen auf ein verklebtes und verkleistertes Schild hinter seinem Rücken.
„Kein Alkoholausschank an Jugendliche!“, brummelte er zwischen den Zähnen hindurch.
„WIE BITTE?! Was soll das heißen, kein Alkoholausschank an Jugendliche?! Wo steht das? Auf dem Schild da? Auf dem Schild klebt der Auswurf tausender besoffener Barflys. Diese Vorschrift ist schon aufgehoben worden, als ich noch Bambi-Filme guckte und mir dabei die Tränen kamen! Das ist doch Blödsinn! Wir sind hier doch nicht in Salt Lake City bei den Mormonen! Ich will gar keinen Alkohol, ich will nur meinen Tequila haben, ohne Tequila werde ich ganz rammdösig, hey Mann, stell dich nicht so an, ich bin schon volljährig, ich weiß wirklich nicht...“
„Komm, schenk dem Jungen einen ein!“, sagte ich zu Jaheiras Schwager, „Wenn’s Ärger mit der Sitte gibt, nehm ich das auf meine Kappe.“
„Na gut, Hank, aber wehe, es gibt Stunk!“
„Keine Angst, das geht in Ordnung.“
„Hey Mann, danke, du bist korrekt, ey!“, meinte der Milchbubi und hielt mir seine Hand hin. „Du bist Hank, nicht wahr? Mich nennen sie Pali.“
Ich schüttelte ihm die Hand. „Freut mich, dich kennenzulernen, Pali.“
„Ja, Mann, freut mich auch, freut mich voll korrekt, Mann!“
„Hhmmm...“
Der Knirps mit den Hörnern auf dem Deckel stieß Pali zur Seite und hielt mir seine schwielenbedeckte Hand hin: „Ich bin Doc. Doc Sternau. Aber Ihr könnt mich auch einfach Doc nennen...“
„...wie alle Eure Freunde, was?“, ergänzte ich.
„Nein, ich habe keine Freunde, höchstens Verbündete.“, meinte der Zwerg. „Wahre Freundschaft verbindet mich nur mit dem Gold. Ich bin Goldschmied, müßt Ihr wissen!“
„Aaah – ja...“
Der lange dürre Kerl hielt mir seine Hand hin: „Skull!“
Die Hand fühlte sich an wie eine abgenagte Hühnerkralle. Ich drückte sie vorsichtig, um nichts zu zerbrechen.
„Angenehm – Hank ist mein Name.“
„- - -„
„Wiebitte?
„- - -„
„Na, wenn du meinst...“
„Hey Mann, du errätst nie, was ich hier in diesem Kasten drin habe!“, meinte Pali und deutete auf sein Mitbringsel. „Das ist ein voll krasses Gerät, sag ich dir, du errätst nie, was es ist. Wetten?“
„Um was wetten wir?“, fragte ich. Wetten waren eine meiner Leidenschaften.
„Hhm – keine Ahnung, schlag was vor!“
„Allright. Hast Du eine Schwester?“
„Ja klar, Mann, ich hab haufenweise Schwestern. Ich hab dermaßen viele Schwestern, daß ich schon gar nicht mehr weiß, wie ich mich an den Riesenhaufen von Mädchenschlüpfern, die bei uns zuhause den Flur bevölkern, noch vorbeiquetschen soll.“
„Gut. Also: Wenn ich die Wette gewinne, dann stellst du mich deinen Schwestern vor. Und wenn du die Wette gewinnst, dann stelle ich dich dieser Traumbraut da drüben vor.“ Ich deutete auf Jaheira.
„Das würdest du machen, Mann? Mich dieser Sahneschnitte vorstellen? Kennst du die überhaupt?“
„Worauf du einen lassen kannst!“
„Hhmm... Na gut. Ja, Mann, das ist fair, denke ich. Wenn du rauskriegst, was ich hier in diesem Kasten habe, dann stell ich dich meinen sämtlichen Schwestern vor. Top, die Wette gilt!“
„Ich hab drei Versuche, ja?“
„Klar doch! Nur zu!“
Die Schmalztolle grinste über sämtliche Backen.
Er gefiel mir. Alle drei gefielen mir. Sie waren verrückt, alle miteinander. Der eine ernährte sich von Stickoxiden, der zweite fraß Ratten und der dritte verhökerte seine Schwestern. Unter solchen Wahnsinnigen fühlte ich mich zuhause.